Waldorfpädagogik missverstanden
Das Editorial der Oktober-Ausgabe 2019 dieser Zeitschrift, Seite 3, möchte mit einem »fundamentalen Missverständnis« im Blick auf Erziehung aufräumen.
Erziehung werde, so Chefredakteur Maurer, »nicht von einem zentralen Motor angetrieben, nicht von den Intentionen des Erziehers, Lehrers, der Mutter oder des Vaters oder eines pädagogischen Gurus, sondern indem in der Peripherie des Kindes Entwicklungs-, Spiel- und Freiräume bereitgestellt« würden, in die »die individuellen Impulse des Kindes hineinfließen und sich entfalten« könnten. Denn, so Rudolf Steiner: »Das Kind ist belehrt«! Mit diesem Zitat des Begründers der Waldorfpädagogik wird die Auffassung verbunden, das Kind hole sich das, was es zu seiner individuellen Entwicklung brauche, selbst aus seiner Umgebung heraus und nicht aus dem, was die »fokussierende Absicht des Erziehenden jetzt will«. Schon einmal hatte die Erziehungskunst die vier Worte Steiners abgedruckt (09/2018). Damals wie heute wurde nicht mitgeteilt, woher das Zitat stammt und worauf Steiner sich bezieht.
Es geht dabei nicht um die Kinder von heute. Die zitierten Worte stammen vielmehr aus einem Vortrag Steiners vom 22. Januar 1921 vor Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach. Der Vortrag setzte anthroposophische Grundkenntnisse voraus und war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Er behandelte esoterische Zusammenhänge über Erlebnisse der Menschenseele in der geistigen Welt vor der Geburt bzw. Konzeption. Die »Götterbelehrung«, von der Steiner sprach, erfolgte durch geistige Wesenheiten der höheren Hierarchien. Die Seelen, die daran teilgenommen hatten, erfuhren von dem geistigen Wesen der Natur, vom Geistigen des Kosmos und des Menschen. Es handelt sich um ein vorgeburtlich aufgenommenes geistiges Wissen, das in früheren Zeiten der Kulturentwicklung der Menschheit nur in den Einweihungsstätten der Mysterien erfahren wurde. Keineswegs alle sich inkarnierenden Seelen hatten an dieser »Götterbelehrung« teilgenommen, sondern nur jene, die durch ihre früheren Erdenleben entsprechend vorbereitet waren. Ohne den Zusammenhang des Vortragsinhalts verlieren die vier zitierten Worte – »das Kind ist belehrt« – ihren Sinn. Beide erwähnten Beiträge der Erziehungskunst gehen auch nicht darauf ein, was Steiner in Zusammenhang seiner Ausführungen als die eigentliche Aufgabe der Pädagogik bezeichnete. Sowohl die Methode für die Unterrichtsfächer als auch den Lehrplan der Waldorfschule im Ganzen hatte Steiner detailliert ausgearbeitet. Er folgt der von Jahr zu Jahr fortschreitenden Entwicklung des Kindes. Es ist ein entscheidendes Qualitätsmerkmal der Waldorfpädagogik, dass durch den jeweiligen Unterrichtsstoff die altersspezifischen Entwicklungskräfte, Fähigkeiten und Potenziale angeregt und gefördert werden. Allein der Aufbau des Erzählstoffes – von den Märchen in der ersten bis zu den herausragenden Biografien in der achten Klasse – soll den Inkarnationsprozess des Kindes von dem noch kindlich träumenden Bewusstsein bis zum Erwachen der Individualität unterstützen. Auch der Unterricht in der Naturkunde vertieft die Schritte auf diesem Weg, von der Menschen- und Tierkunde, zur Pflanzenkunde, Physik und zuletzt Chemie, ein Weg vom geistigen Bild des Menschen, zum Seelischen der Tiere, dem Lebendigen der Pflanzen bis zu den Kräften und Stoffen der unbelebten physischen Welt. Durch die Methode der goetheanistischen Naturbetrachtung wird das Kind zu einem geistdurchdrungenen Verständnis der Natur geführt und nicht bloß zu ihrer sinnlichen Erscheinung. Nichts geht hier von selbst. Alles beruht auf der Kunst der Lehrerin und des Lehrers, den Stoff entsprechend zu gestalten. Erlebt das Kind ein geisterfülltes Wesen der Natur, mit dem es sich innerlich verbinden kann, dann, so Steiner, könnten die vorgeburtlich aufgenommen Bilder in der Seele des Kindes aufsteigen. »Man hat heute nicht mehr die Aufgabe, in das Kind gewissermaßen hineinzugießen, was in alten Zeiten in es hineingegossen werden musste. Man hat heute die Aufgabe, sich zu sagen: Das Kind ist belehrt, es hat nur seinen physischen Leib um die belehrte Seele herumgelegt, und … es muss das herausgeholt werden, was vorgeburtliche Götterbelehrung ist« (GA 203, 22.01.1921, S. 100). Darin sah Steiner die Aufgabe der Waldorfpädagogik: »Wir wissen, wenn es unserer Methode gelingt, die Hülle … hinwegzuschaffen, werden die Kinder den besten Unterricht haben, nämlich denjenigen, den sie vor ihrem Heruntersteigen auf die Erde in der geistigen Welt empfangen haben« (ebd., S. 109).
Unterricht wird in dieser Hinsicht zu einem Wiedererkennen des vorgeburtlichen Wissens vom Geistigen der Natur. Ob das Kind sich auf der Erde geistig beheimatet fühlt, hängt entscheidend davon ab, ob die Erwachsenen in seiner Umgebung ihm etwas anderes nahebringen als ein bloß materialistisch gefärbtes Weltverständnis. Gelingt dies nicht, wird das Kind innerlich vereinsamen, denn von alleine findet es den Geist im Stoff der Erde nicht.
Die Auffassung, dass die Kinder aus der »Peripherie« selbst herausholen würden, was sie für ihre Entwicklung bräuchten, ist demgegenüber ein ganz anderer pädagogischer Ansatz. Er erinnert eher an Montessori: »Hilf mir, es selbst zu tun.«
Im Sinne der Waldorfpädagogik ereignen sich die wichtigsten Entwicklungsprozesse in der unmittelbaren Begegnung der im pädagogischen Prozess beteiligten Menschen. Nur einige Aspekte seien genannt.
In sogenannten »ersten Lebensjahrsiebt« des Kindes, von der Geburt bis zum Schulalter, sind »Vorbild und Nachahmung« die »zwei Zauberworte«, die charakterisieren, wie das Kind in ein Verhältnis zur Umgebung tritt. Nur in der nachahmenden Hingabe an den Erwachsenen richtet es sich auf, an seinem Vorbild erlernt es die Sprache und das Denken. Und »im Nachahmen« – das heißt im Prozess des Tuns – »gießen sich seine physischen Organe in die Formen, die ihnen dann bleiben« (GA 34, S. 324). Was das heißt, wird weitgehend unterschätzt. In diesen Jahren bilden die durch die Vererbung veranlagten Organe jene individuellen Formen aus, die dann für das Leben bleiben, das Fußgewölbe, die Kurvaturen der Wirbelsäule, die Ausdifferenzierung des Gehirns usw. Wie der Erwachsene in der Umgebung des Kindes sich verhält, hat damit einen Einfluss auf die Gesundheits- und Krankheitsanlage des späteren Lebens. Wie weit die Hingabe des Kindes an die Menschen seiner Umgebung geht, kommt in folgenden Worten Steiners zum Ausdruck: Es sei so, »dass das Kind naturhaft in Ihnen selber aufgeht, dass Sie in dem Kinde leben. Alles, was das Kind genießt, lebt, muss so sein, als ob es sein eigenes Inneres wäre. Sie müssen ganz auf das Kind den Eindruck machen, wie der Arm des Kindes auf das Kind einen Eindruck macht. Sie müssen nur die Fortsetzung seines eigenen Körpers sein« (GA 311, 12.08.1924, S. 21).
Nicht aus der Peripherie holt sich das Kind die wesentlichen Anregungen für seine Entwicklung, sondern aus dem Zentrum menschlicher Begegnung! »Da hat die allergrößte Bedeutung, was ich für ein Mensch bin, welche Eindrücke es durch mich bekommt, ob es mich nachahmen kann. … Für das kleine Kind bis zum Zahnwechsel ist das Wichtigste im Erziehen der Mensch« (GA 308, 08.04.1924, S. 20).
Nachfolge und Autorität sind nach Steiner die »Zauberworte« für die Entwicklung des Kindes im »zweiten Jahrsiebt« (GA 34, S. 329). Steiner meint nicht die Autorität des Lehrers, die von außen auf das Kind wirkt, sondern das »Autoritätsfühlen« des Kindes selbst, das zu seinem Lehrer aufblicken möchte, um durch ihn die Welt zu verstehen (vgl. GA 296, 09.08.1919, S. 19). In dieser Zeit müsse aus dem Wesen der Phantasie unterrichtet werden und zwar in einer »geistvollen Weise«. Alles kommt auf die Art des Erzählens an. Seien es die Vorbilder der Geschichte oder die Gleichnisse über die Natur, es geht darum, »zu Gefühl, Empfindung, zur ganzen Seele« zu sprechen. Das ist die Aufgabe des künstlerisch gestalteten, bildhaften Unterrichts, der nicht das tote Wissen, sondern die lebendige Phantasie anzusprechen vermag. Dann wirkt nicht bloß, was man sagt, dann gehe »ein feiner geistiger Strom hinüber zu dem, dem die Mitteilung gemacht wird«, und in diesen feinen seelischen Strömungen zwischen Lehrer und Kind ereignet sich der Unterricht. »Unmittelbares Leben gießt sich dann hinüber und herüber …« Es sei nur notwendig, »dass der Erzieher aus dem vollen Quell der Geisteswissenschaft heraus schöpft« (ebd., S. 333). Steiner sah voraus, dass diese Kräfte, die in früheren Zeiten mehr instinktiv wirkten, zunehmend verloren gehen und fügt hinzu: »… das Autoritätsfühlen zwischen dem 7. und 14. Jahre wird in der Zukunft in erhöhtem und intensiverem Maße ausgebildet werden müssen, als es in der Vergangenheit ausgebildet war. Bewusster und bewusster wird alle Erziehung in diesen Jahren geleitet werden müssen im Sinne eines reinen schönen Autoritätsgefühles, das im Kinde erwacht …« (GA 296, 09.08.191, S. 19). Der Lehrer wird der Maßstab aller Dinge. »Alle Weltengeheimnisse müssen auf dem Umwege des geliebten Lehrers oder Erziehers an das Kind herankommen« (GA 218, 19.11.1922, S. 232).
Mit der Geschlechtsreife erwacht die eigene Urteilskraft. Die inneren Fähigkeiten gehen über von der Kenntnis zur Erkenntnis der Welt. Jetzt wird es hauptsächlich darum gehen, Weltinteresse durch den Unterricht zu wecken. Das wiederum kann nur geschehen, wenn der Lehrer selbst Interesse an dem jeweiligen Unterrichtsgebiet entwickelt und vom Anfang bis zum Ende der Stunde mit dem Interesse der Schülerinnen und Schüler teilt (vgl. GA 302a, 21.06.1922, S 82). »Die ganze Welt beginnt aus ihm zu reden. Und wenn man in sich empfindet das intensivste Interesse an den einzelnen Weltfragen und dann in die glückliche Lage versetzt ist, sie anderen jungen Menschen mitzuteilen, dann redet die Welt aus einem; dann ist es tatsächlich so, als ob Geister aus einem redeten. Und aus so etwas muss Schwung kommen« (ebd., S. 83). Die jungen Leute sollten im Unterricht »so gefesselt sein«, dass sie dadurch von allen Nebensächlichkeiten abgelenkt würden. Es kommt auch in diesem Lebensalter alles darauf an, wie die Lehrerinnen und Lehrer sind, ob die Schülerinnen und Schüler echtes Interesse gewinnen in Anerkennung fachlicher und menschlicher Kompetenz. Alles, was man in diesem Lebensalter an Fehlern mache, wirke »verheerend« in das ganze folgende Leben des Menschen hinein. »Namentlich wirkt es verheerend auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Richtiges Menscheninteresse für das ganze Leben ist nicht möglich, wenn nicht ein richtiges Weltinteresse erregt worden ist …« (ebd., S. 84).
Es gibt Lehrer, die durch ihr Verhalten das Interesse der Schüler für ein ganzes Unterrichtsfach für das Leben verderben. Andere bekommen es durch ihre Originalität fertig, Schüler, die allem gegenüber »Null Bock« haben, zu einer Leistungsbereitschaft zu motivieren, die sie selbst nicht für möglich hielten.
Selbstverständlich gilt auf jeder Stufe des Lebens, dass jeder nur sich selbst erziehen kann. »Jede Erziehung ist Selbsterziehung«, so Steiner 1923, »und wir sind eigentlich als Lehrer und Erzieher nur die Umgebung des sich selbst erziehenden Kindes. Wir müssen die günstigste Umgebung abgeben, damit an uns das Kind sich so erzieht, wie es sich durch sein inneres Schicksal erziehen muss« (GA 306, 20.04.1923, S. 131).
Der Gedanke, dass die Schülerinnen und Schüler sich »von selbst« holen, was »in der Peripherie« »bereitgestellt« wird, muss ergänzt werden durch den anderen, dass die Erzieherin oder Lehrerin selbst die Umgebung sind, an der das Kind sich bildet. Der Mensch lernt das Menschsein nur am Menschen und durch den Menschen das Interesse für die Welt und die großen Aufgaben der Zeit. Ob die Kinder und Jugendlichen die Impulse finden, die sie aus ihrem vorgeburtlichen Leben mitbringen und im Erdenleben verwirklichen wollen, war nicht nur 1921 eine Lehrerfrage, sie ist es im Zeitalter von Smartphones, Google, Facebook und Co. besonders auch heute.
Zum Autor: Frank Linde war Klassenlehrer an der Waldorfschule in Rendsburg und Tübingen, seit 1990 in der Ausbildung von Waldorferzieherinnen tätig, Leitung des Seminars für Waldorfpädagogik, Erzieherseminar Kiel, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Michael-Kranich-Stiftung. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Rüdiger Reichle, Alverskirchen, 02.06.20 14:06
Lieber Herr Linde,
haben Sie vielen Dank für Ihre Zeilen! Der von Ihnen angesprochene Sachverhalt ist sehr bedeutsam, da ich immer öfter im Rahmen meiner Tätigkeit in Kollegien der Meinung begegne, dass unter dem Stichwort Freiheit alles autoritative nicht mehr zeitgemäß sei, dass Epochenunterricht die freie Entwicklung der Schüler zu sehr beschränke und dass man es so den Schülern überlassen müsse, das ihrer Entwicklung Förderliche zu finden.
Rüdiger Reichle
Moderator des Waldorf Experten Service
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