Waldorfpionier in Spanien entdeckt

Peter Schwarz-Mantey

Rafael Altamira war ein spanischer Jurist und Historiker – zu seiner Zeit ein ziemlich berühmter sogar. Er war Professor in Oviedo, Madrid und Mexiko City, von 1921 bis 1945 diente er als Richter am Ständigen Internationalen Gerichtshof, dem Vorläufer des heutigen Internationalen Gerichtshofs. Altamira war einer von drei Richtern, die von der Gründung bis zur Auflösung dabei waren. Zweimal wurde der Spanier gar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Dass der 1866 in Alicante geborene Gelehrte in Deutschland höchstens unter Hispanologen bekannt ist, verwundert wenig. Dass er aber auch in Spanien gerade erst wieder neu entdeckt werden muss, hängt mit General Franco zusammen.

Denn Altamiras Schicksal war mit dem Sieg der Faschisten im Bürgerkrieg 1936 besiegelt: Er floh ins Exil, erst vor Franco nach Den Haag, schließlich vor den Nationalsozialisten nach Mexiko. Viele seiner Manuskripte, Briefe und Aufzeichnungen verbrannten in den Bürgerkriegswirren oder wurden willentlich vernichtet. Der Nachwelt bekannt ist wohl sein wichtigstes Werk, die zwischen 1900 und 1911 in vier Bänden erschienene "Geschichte Spaniens" (Historia de España y de la Civilización Española).

In »Diálogos con Rafael Altamira« (Gespräche mit Rafael Altamira) erinnert jetzt seine Enkelin Pilar an den berühmten Großvater - und erschließt den Juristen und Historiker auch als Pazifisten, Pädagogen und - ob bewusst oder nicht - spanischen Anthroposophen der ersten Stunde.

Zwar durfte Pilar Altamira ihren 1951 im mexikanischen Exil verstorbenen Großvater nie persönlich kennen lernen, unterhält sich aber in ihren »Dialogen« mit dem aus Erzählungen und Werken bestens bekannten Geist des Großvaters - als würde er ihr gerade gegenübersitzen. Bei der Präsentation des Buches in der Universität in Alicante applaudierten Historiker aus Madrid und Murcia, denn die Dialogform der (von den Universitäten Oviedo und Murcia herausgegebenen) Biographie ist trotz ihrer persönlichen Heransgehensweise wissenschaftlich profund.

So erfährt der Leser, dass Altamira neben seiner juristischen Arbeit eine Freiluft-Schule am Meer in Alicante eröffnete und als Lehrer an der berühmten Freien Lehranstalt Madrid (»Institución Libre de Enseñanza«) des Reformpädagogen Giner de los Rios arbeitete. Die war der katholischen Kirche Spaniens und General Franco später ein solcher Dorn im Auge, dass sie sie sofort nach der Machtübernahme verboten. Praktisch alle Lehrer und viele Schüler der Anstalt, darunter Dichter wie Antonio Machado, wählten 1936 das Exil.

Als Schüler und Bewunderer von Goethe und Pestalozzi sowie Zeitgenosse von Maria Montessori und Rudolf Steiner erkannte Altamira vor allem - wie Steiner ja auch - die Notwendigkeit, Kinder, Jugendliche (und später auch Arbeiter) nicht mit möglichst vielen Fakten vollzustopfen, sondern den ganzen Menschen zu erziehen - also nicht nur den Intellekt, sondern auch die moralische und emotionale Ebene anzusprechen. 

»Die Freiheit der Erziehung, die Freiheit des Geistes sowie die Bedeutung des menschlichen Bewusstseins sind die Basis jeglichen Zusammenlebens«, sagte Altamira - und es ist dies nicht der einzige Anknüpfungspunkt an die Lehren Steiners, der in Deutschland 1919 die erste Waldorfschule gründete. Pilar Altamira gelingt es, eine ganze Reihe von Verweisen zu finden, die Altamira und Steiner in eine bislang kaum bekannte geistige Nähe rücken.

Mit Altamira, Giner de los Rios und vielen anderen ging 1936 auch dieser Geist ins Exil, Spanien versank in einen tiefen Schlaf, der von der Katholischen Kirche und der Militärdiktatur sorgsam bewacht wurde.

Noch heute - rund 60 Jahre nach dem Tod ihres Großvaters - ist Pilar Altamira eine der Pionierinnen der Anthroposophie in Spanien, wo es kaum eine Handvoll Waldorfschulen gibt. Die Zeichen allerdings stehen auf mehr. Immer mehr anthroposophische Initiativen bilden sich aus dem vermeintlichen Nichts. Dass dieses »Nichts« in Wirklichkeit eine – wenn auch nur kurz - blühende Vergangenheit besitzt, zeigt das Buch von Pilar Altamira.

Pilar Altamira, Diálogos con Rafael Altamira, Editum Miradas, Universidad de Oviedo 2010, ISBN/ISSN: 978-84-8371-910-7. Euro 13.00.