Warum ein Kind nicht beobachtet werden darf
Was wie eine banales Problem daher kommt, hat es in sich: Wir produzieren ständig Vorstellungen und Bilder von einem Menschen, und dadurch fesseln wir sein Sein an seine Erscheinung. Wer sich selber prüft, weiß, wie solche Festlegungen, wer und wie man sei, die Entfaltung eines Menschen hemmen können. Ohne vorbehaltloses Angenommensein kommen wir in unserer Entwicklung nicht weiter. Bilder, die wir uns von einem Menschen machen, lassen Gespenster entstehen.
In Waldorfeinrichtungen, vor allem im Kindergartenbereich, sind Frage- und Beobachtungsbögen auf dem Vormarsch. Dahingegen befindet sich der individuelle, das heißt, der jeweils einmalige Zugang zum einzelnen Kind auf dem Rückzug – obwohl der Erzieher und Pädagoge weiß, dass aus dem intuitiven Aufnehmen einer Individualität, aus der geschulten Wahrnehmung eines Kindes, sich die eigentlichen entwicklungsfördernden Potenziale erschließen – sowohl im Kind wie im Erzieher. Erzeuge ich ein Bild von dem Kind, fessle ich auch mich selbst. Wer einen Menschen nur beobachtet, verkümmert in seiner Wahrnehmungsfähigkeit.
Jede Beobachtung verändert das, was beobachtet wird. Die Veränderung geschieht durch das, was man vermeintlich objektiviert. Der Mensch ist aber kein Objekt, sondern unter allen Umständen Subjekt. Indem ich ihm vermeintlich objektiv als Beobachter gegenübertrete, präge ich ihm das auf, was nach meinem subjektiven Dafürhalten objektiv ist. Diese Art von Objektivität ist eine völlig subjektive. Indem ich diese »Objektivität« als Maßstab meiner Beobachtung zugrunde lege, reduziere ich den Menschen, das Kind, auf diesen Maßstab. Vor allem schließe ich alles aus, was nicht Gegenstand der Beobachtung ist. Es gibt jedoch nur eine angemessene Haltung einem anderen Menschen, einem Kind gegenüber: Das ist die Liebe. Ein Liebender wird einen Geliebten nie beobachten. Beobachtung ist ein Kälteprozess, die vermeintliche Objektivität Abkühlung. Wer andere beobachtet und das gut befindet, müsste sich auch einer solchen Beobachtung unterwerfen. Eine absichtslose Beobachtung gibt es aber nicht.
Der liebende Blick
Jeder feinfühlige Mensch weiß, dass schon die Absicht verstimmt. Jeder, der meint, die Aufzeichnungen, die er sich vom Beobachteten macht, auch wenn sie nicht in dessen Gegenwart geschehen, würden von diesem nicht seelisch-geistig aufgenommen, zeigt, dass er keine Erfahrung der seelischen und geistigen Wirklichkeit hat.
Eine wirkliche Wahrnehmung eines Menschen entsteht nur, wenn der Blick in Liebe getaucht ist. Das Wahrnehmbare lässt man ohne Absicht und ohne Worte in sich wirken, so dass auch jene Teile der Seele angeregt werden und zu sprechen beginnen, die das Nichtwahrnehmbare offenbaren. Die Verallgemeinerungen eines Beobachtungsbogens machen das individuelle Kind zu einem Abstraktum. Rudolf Steiner sprach davon, man könne dem einzelnen Menschen nur gerecht werden, wenn man ihn als eine eigene Gattung betrachte. Die Generalisierung durch Beobachtungsbögen zielt aber genau in die andere Richtung: Sie macht den Menschen nur tauglich für Statistik und Computerprogramme, die Beobachtetes in Daten verwandeln.
Das Gegenteil von Beobachtung ist Wahrnehmung. In der Beobachtung liegt bereits die Trennung vom Gegenstand.
In der Wahrnehmung dagegen nimmt man das Wahre zu sich. In der Beobachtung schweigt die Empfindung. Das vermittelnde Organ der Beobachtung ist das Auge, das Distanz schafft. In der Wahrnehmung ist die Empfindung das Organ, in dem der Wahrnehmende mit dem Wahrgenommen zusammenklingt. –
Die Beobachtung legt Grenzen von innen und außen fest, die bei der empfindenden Wahrnehmung nicht vorhanden sind. Sucht die Beobachtung beim Kinde nach möglichen Mängeln, setzt sie Grenzen. Der beobachtende Blick ist stets defizitär. Kenner menschlicher Biographien wissen, dass sich Mängel und Fehler im Laufe eines Lebens aus ganz anderen Gründen ausgleichen, als solchen, die ein Pädagoge oder ein Therapeut zu sehen vermag. Schon das empfindende Verständnis der eigenen Biographie lehrt das.
Zum Autor: Werner Kuhfuss ist Kindergärtner im »Bienenkorb« im Elztal bei Waldkirch und begründete die »Kallias Schule« für gemeinsames Bewegen im Spiel.
Veröffentlichungen: Grundzüge eines kulturschaffenden Kindergartens (2004); Die Waldorfkindergartenpädagogik (2005) und Was ist die Wirklichkeit des kleinen Kindes (2006).
Gwen , 05.04.11 20:04
Ich mache zur Zeit in teilzeit die Ausbildung zur Erzieherin. Leider nicht die Waldorfausbildung. Das grosse Thema ist momentan die Beobachtung. Schon als ich das erste mal damit in Berührung kam, fühlte ich mich nicht wohl. Als ich dann in meinem Praktikum die Aufgabe bekam, nach einem bestimmten Beobachtungsverfahren zu beobachten, fühlte ich mich immer schlechter. Ich musste in sechs Wochen fünf mal das gleiche Kind für ca. 10 Min. beobachten und dann die Bögen ausfüllen. Schnell bemerkte ich, wie defizitorientiert ich war. Ich suchte immer nach etwas was das Kind noch nicht kann. Mit der Zeit stellte ich dann fest, dass ich das "eigentliche" Kind gar nicht wahrgenommen habe, weil ich das Kind automatisch auf seine Äußerlichkeiten reduziert habe. Dieser Artikel hat mich nochmal sehr zum nachdenken angeregt und gastärkt noch kritischer mit diesem Thema umzugehen. Vielen Dank. Das nächste Praktikum mache ich in einem Waldorfkindergarten.
Stephanie Karcher, 13.04.11 07:04
Achtung als Grundlage der Beobachtung
Hat sich die Waldorfpädagogik im Laufe der Jahre so sehr daran gewöhnt sich gegen die konventionelle Pädagogik aufzulehnen, dass auch begrüßenswerte Ansätze und Entwicklungen verbal bekämpft werden? Dieses Gefühl beschleicht mich wenn ich als Studierende der Frühpädagogik den Artikel von Werner Kuhfuss lese „Warum ein Kind nicht beobachtet werden darf“. Herr Kuhfuss wendet sich schon in den ersten Zeilen genau dem Problem zu dem die Beobachtungspraxis entgegenwirken soll: der Festlegung des einzelnen Kindes auf ein einmal gewonnenes Bild. „Das wahrnehmende Beobachten meint eine vertiefte Aufmerksamkeit für die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse der Kinder.“ (Schäfer). Wer schon einmal bspw. einen Beobachtungsbogen des Infanskonzeptes oder der Bildungs-und Lerngeschichten bearbeitet hat weis, dass sich hier sowohl jegliche Defizitorientierung verbietet, wie auch die persönlichen Erinnerungen, Emotionen und Reaktionen des Beobachtenden sichtbar gemacht werden und die Beobachtungen schließlich in die fachliche Reflexion mit Kolleginnen münden- ähnlich wie dies in Waldorfeinrichtungen schon lange praktiziert wird. Als Mutter habe ich die Momente des stillen Beobachtens meines spielenden Kindes besonders genossen, oft führte dies zu einem neuen, vertieften Verständnis, bislang übersehene Hintergründe des kindlichen Handelns offenbarten sich. Solche stillen Zeiten sind im Kindergartenalltag selten und müssen daher von den Pädagogen aktiv initiiert werden. Das Ringen um Erkenntnis, um klare Sicht auf das Wesen, Interesse und Entwicklungsstreben des einzelnen Kindes, herausgenommen aus dem Gruppengeschehen und in seiner Einzigartigkeit betrachtet, kann sich meines Erachtens nur förderlich auf das Kind auswirken. Sicher gibt es immer noch die „kann es/kann es noch nicht“- Beobachtungsbögen- hier würde ich mich Herrn Kuhfuss aus vollem Herzen anschließen. Doch eigentlich hat sich die Pädagogik der frühen Kindheit inzwischen zur Steinerschen Erziehung durch Selbsterziehung bekannt, Erziehende begreifen sich endlich als Lernende und erkennen Kinder als Subjekte ihrer Entwicklung. Dies sollte von Seiten der Waldorfpädagogik interessiert verfolgt, unterstützt und mit eigenen Innhalten gefüllt, und nicht kategorisch abgelehnt werden!
Im April 2011, Stephanie Karcher
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