Warum wir kleinere Klassen brauchen
Das Homeschooling hat alle Schulsysteme vor große Herausforderungen gestellt. Jede Schule hat nach eigenen Lösungen gesucht, um die Kinder zu erreichen und zu begleiten. Den meisten Schüler:innen hat sicher der gewohnte Rhythmus gefehlt. Alle waren herausgefordert, eine eigene Strategie für sich selbst zu suchen und zu finden. Hier wurde rasch deutlich: Vierzig Kinder sind vierzig Wege.
Das Lernen im Wechselunterricht, also eine Woche zu Hause, eine Woche in der Schule, war wiederum Neuland. Gefallen hat den meisten Lehrer:innen – aber auch den Schüler:innen – die kleinere Arbeitsgruppe! Es gab mehr Zeit für die Begleitung des Einzelnen, die Atmosphäre war ruhiger und die Pause zu Hause war teilweise erholend (ich weiß, nicht unbedingt für alle Elternhäuser!).
An unserer Schule werden jährlich 38 Jungen und Mädchen in die ersten Klasse eingeschult. Im Fachunterricht wird die Klasse geteilt und in den künstlerischen Fächern sogar gedrittelt. Aber im Hauptunterricht sitzen die Kinder eben mit sehr vielen anderen zusammen. Früher war das auch so und früher ging es auch und früher war auch nicht alles schlecht. Das stimmt. Aber wir leben 2022 und für viele Kinder ist eine Gruppe von zehn Menschen schon eine große Gruppe (auch für Erwachsene übrigens!).
In einer Klasse mit 38 Kindern sind es logischerweise 38 kleine und dann rasch älter werdende Persönlichkeiten, die ihre Bedürfnisse haben und diese lauthals und vehement kundtun. Dazu kommen 38 Elternpaare, das sind dann 76 Erziehungsberechtigte, die jeweils das Beste für ihr Kind wünschen und wollen. Jedes Kind will lernen! Und jeder Mensch, ob jung oder alt, möchte gesehen werden. Ich sehe auch heute bei 38 Kindern vieles. Sicher nicht alles, das muss man auch nicht. Aber ich sehe jedes einzelne Wesen. Alle. Über die vielen Jahre sowieso. Aber ... das Sehen genügt nicht mehr! Ich möchte handeln, helfen, stützen, fordern, fördern, begleiten, anregen … und das schaffe ich aber nicht mehr!
Inzwischen arbeitet die gesamte Unterstufe (1–6) im Team. Teilweise kommen dann noch Förderlehrer:innen oder persönliche Assistenzen für einzelne Kinder dazu. Das heißt, zu den 38 Kindern kommen weitere vier Erwachsene (plus Bufdi/FSJler). Das Team arbeitet sicherlich hervorragend! Es sind unheimlich viele Aufgaben – neben der Vermittlung des Lesens, Schreibens und Rechnens – dazugekommen. Förderpläne müssen geschrieben werden, die Elternarbeit hat sich intensiviert, die Ansprüche sind insgesamt deutlich gestiegen: »mein Kind soll bitte bestmöglich begleitet werden«, es soll in seiner Persönlichkeit erkannt und gefördert werden …
Erwartungen
Meine Frage, wie gute Bildung gelingen kann, hat sich in den letzten dreißig Jahren nicht verändert. Sie ist nun ganz konkret. Ich arbeite mittendrin. Für mich war Schule immer ein Ort des Lebens. Oder sollte es sein! Hier sollten Kinder Anregungen bekommen auf sämtlichen Gebieten des Lebens. Das Leben ist so fantastisch! Es gibt so viel zu entdecken! »Jedes Kind ein Könner«, schrieb Henning Kullak-Ublick! Ja, seht die Kinder an! Es sind tägliche Begegnungen mit individuellen Persönlichkeiten, die ihre Aufgabe auf dieser Erde suchen. Und wir dürfen sie begleiten und teilhaben. Dafür muss sich die Schullandschaft verändern.
Lösungen
Um gut lernen, arbeiten und forschen zu können, braucht es Ruhe. Oder zumindest eine angenehme Atmosphäre, in der zielstrebig gearbeitet werden kann. – Wir wissen auch, wann Kinder zufrieden sind. Es ist wie bei uns Großen. Wenn uns etwas oder jemand berührt. Wenn wir in Resonanz treten mit einem Thema oder einer Person. Schule muss also den Kindern Angebote machen, die sie ergreifen können. Kinder sind jedoch verschieden und können nicht gleich behandelt werden.
Um aber differenzieren zu können, muss ich zusätzlich zum Material auch Räume haben. Ich muss flexibel auf plötzliche oder unerwartet neu entstehende Arbeitsprozesse reagieren können. Schüler:innen sollten sich zurückziehen können. Sie sollten auch einen Ort aufsuchen können, an dem sie Hausaufgaben machen oder eine Tasse warmen Kakao bekommen können. Schule als Ort des Lebens. Wir alle verbringen einen Großteil der Woche in dieser Einrichtung. Sie sollte schön sein und funktional. Waldorfschulen sind in der Regel schön. Man fühlt sich wohl und geborgen.
Fazit
Wie können wir auf die Individualisierung eingehen? Wir erwarten von den Kindern, dass sie allein vor der Gruppe sprechen, sich zeigen und sich an ihrer Persönlichkeit freuen. So dass sie nach zwölf Jahren die Welt mit ihren Ideen und Kräften gestalten. Jedenfalls sind das meine Ziele, wenn ich mit den Jugendlichen arbeite und Zeit verbringe. Das Individuum in der Gemeinschaft. Das empfinde ich als die hohe Erziehungskunst.
In Kleingruppen kann man zu einem sozialen Wesen werden. Die Großraumbüros haben ausgedient. Lern- und Arbeitswelten sollten neu gestaltet werden. Das ist eine große Chance! »Schule neu denken«, das sagte Hartmut von Hentig. Nur wenige seiner Fans fanden den Mut, neue Wege zu gehen. Es ist schwer, alte Strukturen zu verlassen. Denn sie gaben und geben ja einen Rahmen und Halt.
Unsere Aufgabe als Eltern und Pädagog:innen ist es doch, den Kindern Vertrauen in ihre eigene Kraft zu schenken! Dafür braucht es Zeit, Kraft, Aufmerksamkeit, Geduld, Neugier und Mut. Und: Lust und Freude am Leben!
Schule kann und sollte ein Ort der Kraft sein. Eine Kraftquelle. Dafür muss die Atmosphäre stimmen. Ein Café als Ort der Begegnung, des Austausches, eine Bibliothek, um sich eigenständig fortzubilden, ein Ruheraum, ein Bewegungsraum, ein Garten mit Bänken … eine Werkstatt, ein Feuerplatz, ach, es ist herrlich, sich diese Schule zu erträumen.
Vielleicht hilft die Frage an uns selbst: Was brauche ich, um gut lernen und arbeiten zu können? Gibt es bei 38 Kindern 38 Antworten? Vielleicht. Und dann? Es bleibt spannend. Ich wünsche uns allen den Mut, im Kleinen Schritte zu wagen, die Schule neu zu gestalten. Alles auf Null. So wie in Stuttgart 1919. Just do it!
Autorin: Christine Holle, *1971, Sportlehrerin und unterstützende Klassenbetreuerin in der Mittelstufe an der Freien Rudolf-Steiner-Schule Ottersberg. Sie fotografiert gerne Baustellen und interessiert sich für Architektur, außerdem fährt sie gerne auf internationale Tagungen für Sport- und Bothmerlehrer:innen, um sich »mit anderen spannenden Menschen auszutauschen«. Verheiratet, drei Kinder.
Kontakt: holle_christine(at)yahoo.de