Was braucht eine gute Kinderbesprechung?

Klaus Hadamovsky

Empfinde ich eine Kinderbesprechung als gelungen, dann gehe ich daraus mit zwei Erlebnissen hervor:

Erstens mit einer aktuellen Geist-Erfahrung. Unbeweisbar, aber so konkret, dass sich jede Diskussion erübrigt, ist etwas geschehen zwischen mir und der geistigen Individualität des Kindes, die in der Besprechung aufleuchtete. Eine Berührung hat stattgefunden, die mich freudig erhebt und aufrichtet. Zweitens mit überraschend neuen Einfällen zur Förderung, Behandlung und gegebenenfalls weiteren Diagnostik dieses Kindes.

Meines Erachtens hängt es von diesen beiden Erfahrungen ab, ob ein Kollegium gedeiht. Teilt es solche Erlebnisse, dann wächst es zusammen, kann sich seelischgeistig ernähren und widersteht dem burnout. Wenn der Mathelehrer, ein erklärter Agnostiker und gefürchteter Zyniker, nach der Konferenz mit blitzenden Augen verkündet, er habe da gerade so eine Idee, wie er den besprochenen Jungen jetzt anpacken könne, – dann hatte der gute Mann soeben einen Geistesblitz, sprich eine Intuition, egal, wie er das in seinem Vokabular nennt, und er nimmt teil an dem Prozess. Vor einer sinnvollen Teilhabe an einer Kinderbesprechung sind allerdings Hindernisse zu überwinden. Die schwersten errichten die Teilnehmer selbst. Man kommt mit Meinungen in die Konferenz, mit subjektiven Urteilen, die man gerne austauschen, bestenfalls bestätigt finden möchte. Stattdessen geht es um etwas vollständig Neues. Manche Gesprächsteilnehmer verhalten sich desinteressiert und disziplinlos, weil sie das Kind, das besprochen wird, nicht betrifft. Desinteresse und Disziplinlosigkeit sind zwei Aspekte der Subjektivität, die jeden gemeinsamen Prozess sprengen können

Wirklich mitmachen oder den Raum verlassen

Vielleicht die unangenehmste Störwirkung geht von der subjektiv erlebten Zeitnot aus. Die meisten Pädagogen beiderlei Geschlechts vermitteln den Eindruck, sie hätten eigentlich keine Zeit: Es gibt noch so unendlich viel zu tun an jeder Schule! Dabei gibt es doch nichts Wichtigeres als das, was man jetzt tut, in eben diesem Augenblick. Damit etwas Neues entstehen kann, müssen solcherlei Subjektivitäten überwunden werden. Meinungen sind alte, subjektive Urteile, die man mitbringt. Mögen sie auch erst vor wenigen Minuten entstanden sein – dem wirklich Neuen stehen sie im Wege. Sie werden am leichtesten überwunden, wenn man sich ein umfassendes Bild macht. In dieser Vollständigkeit kann das nur von einem Kollegium geleistet werden, weil dem Einzelnen die Wahrnehmungen und Blickwinkel der anderen fehlen. Wenn dabei wirklich alle Betroffenen zu Wort kommen sollen, braucht das seine Zeit – mindestens eine dreiviertel Stunde.

Wer nicht betroffen ist, sollte sich betroffen machen, das heißt, interessieren und konzentrieren oder den Raum verlassen. Eine Predigt in der Kirche hält es ja vielleicht aus, wenn in der ersten Bank jemand schnarcht – eine Kinderbesprechung verträgt es nicht, wenn jemand döst, tuschelt oder auch nur still Hefte korrigiert. Es ist wie mit zahlreichen anderen Errungenschaften der Kultur: Ein Einzelner kann sie nicht herstellen, wohl aber zerstören.

Ob das Bild des Kindes so deutlich wird, dass es Leuchtkraft gewinnt und die geistige Individualität ahnen lässt, hängt von der Mitarbeit sämtlicher Anwesenden ab. Ich frage mich nach mehreren Jahrzehnten der Teilnahme an solchen Veranstaltungen, ob sich das in Kollegien von 30, 40, 60 Lehrern überhaupt methodisch herbeiführen lässt; ob es nicht vielmehr ein Glücksfall ist, wenn es einmal gelingt.

Bei Zeitdruck setzen sich die großen Redner durch

Nur angesichts eines gemeinsam völlig neu erstellten Wahrnehmungsbildes kann man überhaupt zu einer Urteilsbildung über ein Kind kommen und in eine Beschlussphase eintreten, die für alle Beteiligten Neues erwarten lässt. Auch dies braucht Zeit und Ruhe. Bei Zeitdruck setzen sich sofort die brillantesten Redner durch, die genialsten Charakterisierer und Glossierer von Kinderfähigkeiten und Elternmacken. Die Wahrnehmungen der Bedächtigeren kommen nicht zu Wort. Man geht mit Informationen nach Hause statt mit einer Intuition. Klassen- und Fachkonferenzen, in denen nur die kleine Zahl unmittelbar beteiligter Lehrkräfte zusammensitzt, finden offensichtlich leichter zu diesem Ziel, wenn sie sich denn die Zeit lassen, methodisch zu arbeiten und nicht nur Meinungen auszutauschen.

Die Verknüpfung medizinischtherapeutischer mit pädagogischen Gesichtspunkten in der Kinderbesprechung ist nach meiner Einschätzung nur fruchtbar, wenn diese beiden Erfahrungen gemacht werden: die innerste Berührung mit der Individualität des Kindes und die Intuition völlig neuer Einfälle. Wenn nicht, verbleibt man im Erfahrungswissen, gibt ärztliche Tipps und Informationen weiter – nichts, was das Leben wirklich ändern könnte.

Auch die Eltern brauchen eine Intuition 

Aber auch eine gelungene Kinderbesprechung mündet nicht selten in eine herbe Enttäuschung. Man möchte als Pädagoge oder Arzt die Resultate mit den Eltern erörtern – und diese ziehen nicht richtig mit! Sie können nicht, denn man teilt ihnen die neuen Erkenntnisse mit, statt dass man ihnen dazu verhilft, sie selbst zu gewinnen. Man bringt sie dabei um den Prozess, der sie in der Stunde der Not – wann sonst werden Kinderbesprechungen gehalten? – von ihrer eigenen Subjektivität erlösen und selbst intuitionsfähig machen könnte, reif für unerhörte neue Einsichten über ihr Kind und vor allem: für Handlungsimpulse. Soll man also die betroffenen Eltern in die Kinderbesprechungen einbeziehen? Unsinn! Alle Beteiligten wären überfordert. Diese Gespräche leben von der methodischen Disziplin und Kompetenz ihrer Teilnehmer und brauchen Intimität; das habe ich hoffentlich deutlich ausgedrückt.

Das Dilemma lässt sich jedoch lösen, indem man Helfer-Runden einrichtet, Rundgespräche, an denen sich alle beteiligen, die sich unmittelbar für dieses Kind verantwortlich fühlen: Eltern, Klassenlehrer, der Schularzt, vielleicht bestimmte Fachlehrer, gegebenfalls weitere Familienangehörige und Therapeuten von inner- wie außerhalb der Schule. Die Eltern stehen im Mittelpunkt dieser Gespräche und entscheiden, wen sie dabei haben möchten, gemeinsam mit Klassenlehrer oder Schularzt.

Ein Vater sieht sich selbst

Meist entstehen dabei Gesprächskreise von fünf bis sieben Teilnehmern, die verblüffend effizient arbeiten. Im Grunde handelt es sich um spontan gebildete spirituellpädagogische Selbsthilfegruppen. Da die Teilnehmer miteinander ungeübt sind, brauchen sie mehr Zeit für die Bildgestaltung, etwa zehn Minuten pro Person. Für Bildaufbau, Urteilsbildung, Beschluss-Phase und Rückschau über das soeben Erlebte braucht man also mindestens neunzig Minuten. Bei sämtlichen Schritten sollten die erprobten Grundregeln aller Selbsthilfegruppen eingehalten werden. Erstens: keine Fragen, zweitens: keine Ratschläge. Schließlich sind die Eltern betroffener als alle übrigen Teilnehmer und reagieren zu Recht empfindlich auf Grenzverletzungen durch lenkende oder bohrende Fragen und pädagogische Ratschläge. Wenn man sie nicht mit unverständlichem Vokabular zutextet, sind eigentlich alle Eltern spirituell viel offener und belastbarer, als man erwartet. Wenn mir hinterher ein Vater, Hardcore-Autoverkäufer einer Nobelmarke, mit etwas feuchtem Blick erklärt, er habe die ganze Zeit sich selber gesehen als kleinen Jungen: Nun ja, dann hatte er halt seine Intuition … Wie immer er das benennt, es wird segensreiche Folgen haben. Gewiss sind solche Rundgespräche sehr aufwändig und keineswegs für jedes Kind erforderlich. Aber in vielen Problemfällen bewähren sie sich und es spielt dabei keine Rolle, ob die Betroffenen das Problem mehr beim Kind oder bei den beteiligten Erwachsenen lokalisieren. 

Zum Autor: Klaus Hadamovsky ist Schularzt an der Flensburger Waldorfschule. Als Arzt für Allgemeinmedizin betreibt er gemeinsam mit seiner Frau die medizinisch-pädagogische Praxis für Entwicklungs-Hilfe und Therapie in Flensburg.