Standpunkt

Was ist gemeint: das freie Geistesleben oder das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung?

Stefan Grosse

Mir erscheint es fraglich, ob der häufig kolportierte Gedanke, dass die Waldorfschule der überlebende Rest der Dreigliederungsidee sei, zutreffend ist. Vielmehr sehe ich die Waldorfschule als einen von der Dreigliederung unabhängigen pädagogischen Impuls. Für mich immer wieder verwunderlich ist der im gröberen Kontext dieses freien Geisteslebens geäußerte Gedanke, Waldorfschulen wären ja Bestandteil desselben, deshalb könnten ihre Vertreter, was das Ausgestalten von Schule angeht, machen und äußern, was sie wollten, schließlich sei das alles Geistesleben – und deshalb frei.

Was heißt freies Geistesleben als gesellschaftliche Idee und Größe? Es bedeutet, dass der Staat nicht reglementierend und die Wirtschaft nicht suggerierend in dasjenige einer solchen Einrichtung hineinwirken sollten, was sich in ihr an geistig-schöpferischen Prozessen abspielt. Etwas ganz anderes, und leider oft mit dem gerade Genannten verwechselt, ist das Recht auf freie Meinungsäußerung. Letzteres muss man nicht erstreiten, es ist den in Deutschland lebenden Menschen per Verfassung zuerkannt.

Zu bedenken ist, dass in jeder Gemeinschaft per se eine Rechtssphäre besteht, einfach deshalb, weil Menschen zusammenleben. Wenn man das Prinzip des freien Geisteslebens ohne Grenzsetzung auslebt, kommt man in Konflikt mit dem Prinzip der Gleichheit im Rechtsleben. Eine wichtige Funktion des Rechtslebens ist die Gewährleistung der Integrität der Persönlichkeit, ein Schutz, der allen in gleichem Maße zukommen muss.

Am 16. Mai 2022 hat die Mitgliederversammlung des Bundes der Waldorfschulen mit großer Mehrheit beschlossen, dass alle Waldorfschulen ein Schutzkonzept gegen Gewalt an ihren Einrichtungen implementieren. Zugleich wurde beschlossen, dass bei Nichteinhaltung der Fristen und Zusagen ein Sanktionskatalog zur Anwendung kommt. Beide Beschlüsse stellen in meinen Augen einen bedeutenden Fortschritt im Ausbilden eines Waldorfgemeinschaftslebens dar.

Im Vorfeld der Beschlussfassung gab es auch Stimmen, die sich gegen das verbindliche Einführung dieses Schutzkonzeptes äußerten und die sich auf die Freiheit im Geistesleben beriefen! Für mich ist das eine Begriffsverwirrung par excellence, weil hier nicht Aspekte des Geistig-Schöpferischen zum Tragen kommen, sondern solche des Rechtslebens, das Verbindlichkeit und Verlässlichkeit fordert, damit Kinder und Jugendliche unbesorgt und frei von Beschädigungen ihre Persönlichkeit entwickeln können. Diese Verbindlichkeit und Verlässlichkeit sind Qualitäten und Signaturen eines gesunden Verbandslebens. Die Träger und Initiatoren dieses Impulses sind letztendlich die Schulen, die diese Prinzipien vereinbaren und realisieren.

Kommentare

Markus von Schwanenflügel,

Offensichtlich waren einige Mitglieder, die auf der Mitgliederversammlung gegen die verbindliche Einführung des Schutzkonzeptes gegen Gewalt stimmten, der Meinung, dass damit unzulässig in den Gestaltungsbereich der einzelnen Schule eingegriffen wird und begründeten das wohl, indem sie sich auf Ideen der Dreigliederung des sozialen Organismus bezogen. Ob Stefan Grosse recht damit hatte, ihre Argumentation als «Begriffsverwirrung par excellence» abzuqualifizieren, können wir Leser:innen letztlich nicht wirklich beurteilen – es käme da nämlich sehr auf die Feinheiten in den Formulierungen an. Sehr wohl können wir uns allerdings darüber wundern, dass es inzwischen notwendig ist, gleichzeitig mit einem solchen Beschluss einen Katalog von Sanktionen zu verabschieden, mit denen die «Nichteinhaltung von Fristen und Verabredungen» geahndet werden soll, und erst recht darüber, dass Stefan Grosse dies als Indiz für ein «gesundes Verbandsleben» bezeichnet.
Diese Auffassung könnte eine Folge davon sein, dass er «die Waldorfschule als einen von der Dreigliederung unabhängigen pädagogischen Impuls» (Hervorh. MvS) ansieht und sich daher als Vorstand bei der Ausgestaltung des Bundes nicht an den Ideen der Dreigliederung zu orientieren braucht. Die Leser:innen der Erziehungskunst sollten aber wissen, dass an prominenter Stelle, nämlich in «Erziehung zur Freiheit», der wunderbaren vom Bund herausgegebenen Darstellung der Waldorfpädagogik von Frans Carlgren und Arne Klingborg, unter der Überschrift: «Die Waldorfschule als eine Frucht der Dreigliederung» (in 12. Auflage!), sehr prägnant die gegenteilige Position vertreten wird. Außerdem hat Rudolf Steiner selbst in seinem Aufsatz «Freie Schule und Dreigliederung», der als Leitartikel am 1. August 1919, also im Monat der Eröffnung der ersten Waldorfschule, in der Wochenschrift »Dreigliederung des sozialen Organismus» erschien, dargestellt, wie sehr es ihm am Herzen lag, dass freie Schulen gegründet werden. Und Erich Gabert berichtet in den Einleitungen zu den Konferenzen (GA 300a), dass sich Steiner in den Verhandlungen mit der Schulbehörde mit aller Kraft dafür einsetzte, den möglichen Einfluss des Staates nicht nur auf die Pädagogik sondern auf alle inneren Angelegenheiten der Waldorfschule möglichst klein zu halten. Wie weit heute der Bund z.B. mit Hilfe von Mehrheitsbeschlüssen in die einzelne Schule «hineinregieren» sollte, scheint mir eine sehr aktuelle Frage zu sein.

Johannes Mosmann,

Sehr geehrter Herr Grosse,

Vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Sie nehmen Bezug auf den Beschluss des Bundes, Mitgliedseinrichtungen zu sanktionieren, falls diese nach vorgegebener Frist kein Schutzkonzept vorlegen. Ich kenne die Stimmen nicht, die sich unter Berufung auf ein freies Geistesleben gegen diese Entscheidung stellten und kann somit auch deren Argumente nicht beurteilen. Die in Ihrem Artikel referierten Argumente finde ich jedoch problematisch, und zwar sowohl jene, die für, als auch jene, die gegen die Entscheidung des Bundes zu sprechen scheinen.

Sie machen innerhalb des Schullebens offenbar eine Rechtssphäre aus, der Sie die Freiheitssphäre gegenüberstellen. Den Begriff der „Verbindlichkeit“ verknüpfen Sie sodann mit jener Rechtssphäre. Henning Kullak-Ublick schreibt in seinem Beitrag in derselben Ausgabe jedoch ganz richtig: „Freiheit im Bildungswesen bedeutet, das sei hier zur Vermeidung eines nicht ganz seltenen Missverständnisses ausdrücklich hinzugefügt, keineswegs, dass Beliebigkeit und Willkür an die Stelle staatlicher Regulierung treten.“ Das heißt aber: der Begriff der "Verbindlichkeit" gehört sehr wohl dem freien Geistesleben an. Es muss nicht erst eine "Rechtssphäre" hinzugedacht werden, um doch in Freiheit verbindliche Formen der Zusammenarbeit auszubilden.

Leider wird Rudolf Steiners Idee einer sozialen Dreigliederung häufig durch die Brille jener Gewohnheiten gelesen, die er mit dieser Idee gerade überwinden wollte. Wir verknüpfen nämlich die Vorstellung gemeinschaftlicher und verbindlicher Zusammenarbeit für gewöhnlich mit derjenigen eines demokratischen Rechtsleben. Demgegenüber erscheint das "freie Geistesleben" dann, für sich genommen, als eine Summe unzusammenhängender und voneinander unabhängiger Individuen. Die Polarität "Ich" und "Gemeinschaft" fällt nach dieser Lesart zusammen mit "Geistesleben" und "Rechtsleben" – Geistesleben = Ich, und Rechtsleben = Zusammenleben. Rudolf Steiner stellte jedoch dem "Ich" drei verschiedenartige Gemeinschaftsprozesse gegenüber: demokratisches Rechtsleben, assoziatives Wirtschaftsleben und eben das freie Geistesleben. Demokratisches Rechtsleben, assoziatives Wirtschaftsleben und freies Geistesleben – das sind die drei Gegenpole des Ich.

Nur so wird verständlich, weshalb Steiner tatsächlich keine besondere "Rechtssphäre" innerhalb einer Schule oder ihres Verbandes sehen wollte, sondern diese Sphäre für ihn zusammenfiel mit dem demokratischen Rechtsleben in den Staats- oder Ländergrenzen als solchem. Und so liegt der Fall ja auch beim Schutzkonzept: dieses ist keine Erfindung der Waldorfschulen, sondern eine Anforderung des Rechtsstaates an alle Schulen – mit der man als Demokrat keineswegs einverstanden sein muss, sondern der man sich auf demokratischem Wege auch entgegenstellen kann. Der Bund der freien Waldorfschulen antwortet mit seiner Entscheidung über ein verbindliches Schutzkonzept also auf eine Anforderung des allgemeinen, sich gerade nicht innerhalb von Schulmauern oder Verbänden, sondern in den Grenzen des Staates bzw. der Bundesländer konstituierende Rechts.

Deshalb ergeben sich aus der Dreigliederung heraus aber auch ganz andere Fragestellungen an die Entscheidung des Bundes als jene, die Sie referieren, nämlich:

Wenn die Behörden ohnehin an die Schulen herantreten, ein Schutzkonzept fordern und bei einem Verstoß sanktionieren werden, weshalb will der Bund der freien Waldorfschulen dann noch zusätzlich sanktionieren? Ist das nicht doppelt-gemoppelt? Wieso greift er dem Verhältnis der jeweiligen Schule zum Gesetzgeber vor? Unterbindet damit nicht gerade den demokratischen Prozess auf dem Gebiet des Rechtslebens? Und falls es ihm darum geht, eine einheitliche und verbindliche Antwort aller Waldorfschulen auf die sich aus der Rechtssphäre ergebenden Forderung nach einem Schutzkonzept geben zu können – hat er sich denn einmal gründlich mit der Frage befasst, wie im freien Geistesleben überhaupt Einheitlichkeit und Verbindlichkeit entsteht? Gibt es hier nicht ganz andere Wege als den, das Staatsleben zu imitieren?

Ich erlebe ein Schutzkonzept als eine Notwendigkeit – und weiß, dass in den meisten Waldorfschulen genauso gedacht wird. Sicher gibt es aber auch Schulen, die bislang noch kein Schutzkonzept haben oder die vielleicht sogar keines wollen, weil in ihrem Bundesland die gesetzliche Anforderung überhaupt nicht besteht. Diesen Schulen möchte ich nicht pauschal unterstellen, dass sie die Probleme ignorieren, auf welche das Schutzkonzept zielt. Vielleicht haben sie ganz andere Antworten? Und vielleicht besteht auch erstmal Bedarf an einem gemeinsamen Erkenntnisprozess bezüglich der Probleme, die der Bund im Auge hat? Anders gefragt: Wie sollen wir denn eine gemeinsame und verbindliche Antwort auf ein Problem finden, wenn wir dieses Problem überhaupt noch nicht in derselben Weise erleben und beurteilen?

Sehr geehrter Herr Grosse, damit soll keineswegs gesagt werden, dass die Mitgliederversammlung falsch entschieden hat. Aber die Fragestellungen, die sich aus dem Sozialimpuls der Waldorfschulbewegung hinsichtlich dieser Entscheidung ergeben, sind meines Erachtens dann doch etwas komplexer, als es Ihre Stellungnahme vermuten lässt. Ich bin Ihnen gleichwohl dankbar dafür, denn es ist gut, wenn wir im Bund über diesen Sozialimpuls ins Gespräch kommen! Insofern nehmen Sie meine Kritik bitte als einen freien und freilassenden Beitrag für das von Ihnen begonnene Gespräch, ganz im Sinne eines freien Geisteslebens.

Herzliche Grüße
Johannes Mosmann, Berlin

Martin Cuno, Siegen,

Nach meinen beiden höflichen Vorrednern übernehme ich gerne die Buhmann-Rolle und finde: es ist ein erschreckendes Zeichen von Inkompetenz (wenn man nicht sagen will: bewusster Irreführung der Öffentlichkeit), wie hier ein Waldorf-Verbandsvertreter an der inneren geistigen Systematik (Ich-Gestalt) der anthroposophischen pädagogischen Bewegung vorbeischaut und "die Waldorfschule" mal locker als "einen von der Dreigliederung unabhängigen pädagogischen Impuls" hinstellt.

Die Vorredner haben das Nötige dazu gesagt; den Literaturhinweisen Herrn von Schwanenflügels könnte das Mehrfache an die Seite gestellt werden – aber die Erkenntnis einer inneren Einheitlichkeit entsteht ja nicht durch Viel-Lesen. Herr Mosmann lenkt den Blick auf den Schlüsselbegriff der Verbindlichkeit, und tatsächlich: schon der bewegenden Ansprache Rudolf Steiners an die Lehrer der ersten Waldorfschule, am Vorabend des ersten Lehrerkurses, Stuttgart, 20. August 1919 (über die "Lehrer-Republik", in GA 293) kann man entnehmen, "was die Schule zu einer Einheit macht" und somit "Ersatz für eine Rektoratsleitung" bilden kann; schon hier also liegt die Antwort auf Herrn Mosmanns höfliche Frage, "wie im freien Geistesleben überhaupt Einheitlichkeit und Verbindlichkeit entsteht".

Verwunderlich ist, dass Herr Grosse eine verbreitete Verwechslung von "freiem Geistesleben" und "freier Meinungsäußerung" (völlig zurecht) kritisiert, dann aber selbst schreibt: "Wenn man das Prinzip des freien Geisteslebens ohne Grenzsetzung auslebt, kommt man in Konflikt mit dem Prinzip der Gleichheit im Rechtsleben." Wer verwechselt denn hier, wer lässt Unterscheidungsvermögen, ganz im Trend der Zeit, kollabieren? Muss "Geistesleben" BEGRENZT werden?

Ich war selbst nicht auf der Mitgliederversammlung, aber es erschließt sich mir nicht (meinen Vorrednern wohl auch nicht) ein Zusammenhang der Schutzkonzept-Thematik mit dieser Begrenzungs-Frage, die Grosse offenbar umtreibt. Von übertriebenen "freien Meinungsäußerungen" in unserer Szene zu dieser Sachfrage habe ich nichts mitbekommen – aber ich möchte wetten, dass Grosse (und der Vorstand?) eher die zu begrenzende "freie Meinungsäußerung" auf einem anderen Themengebiet im Auge haben: Corona. Vielleicht werden wir die Segnungen von Sanktionskatalogen ("bedeutender Fortschritt im Ausbilden eines Waldorfgemeinschaftslebens", "Signatur eines gesunden Verbandslebens") bald auf solcherlei Meinungsfeldern erleben.

Das ist kein Schmalspur-Verständnis von "freiem Geistesleben", es ist überhaupt kein Verständnis. Freies Geistesleben ist nicht die "Offene Gesellschaft" der "freien Meinungsäußerung", mit der wir es so herrlich weit gebracht haben und die nun hier und da nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihre Überstrapazierer verteidigt werden muss, selbstverständlich auf Grundlage demokratischer Mehrheitsbeschlüsse. Freies Geistesleben ist physisch wirkender Inhalt. Man kann dazu in GA337 ("Vierter Diskussionsabend", Dornach 16. August 1920, insb. S. 63–68) nachlesen, wie die Menschenbegegnung auf Stoffwechsel-Ebene Grundlage des freien Geisteslebens ist. Sie ist dem Menschen "ebenso notwendig, wie dass er geboren wird", und dies gilt ausdrücklich auch für das "Zusammenleben des Lehrers mit seinen Schülern".

Freies Geistesleben ist körperliche Menschenbegegnung – und insofern können wir trostreich Hoffnung haben, dass der Corona-Krise (der Mensch wird dem Menschen körperlich zum Wolf, sei es dass der eine den andern mit der Infektion oder mit der Spritze bedroht) Heilsames begegnen wird.