Ich stehe in unserer Gemeindebücherei etwa zwei Meter vom Ausgabetisch entfernt und warte auf die Bibliothekarin, die im Hintergrund beschäftigt ist. Außer mir wartet keiner. Ein Junge, etwa elf Jahre alt, geht an mir vorbei und stellt sich vorne an den Tisch. Eine weibliche Stimme hinter mir ruft: »Du sollst dich nicht immer vordrängeln!« Das »immer« und die nachfolgenden Worte deuten darauf hin, dass es die Mutter des Jungen sein muss, die da ermahnt. Denn so gut kann ihn nur jemand kennen, der ihn schon lange tagtäglich erlebt. Er hat nicht gedrängelt. Mich wird er kaum wahrgenommen haben. Entsprechend fragend ist sein Blick, als er sich umdreht. »Außerdem sollst du nicht immer so vorlaut sein!« Bis zu diesem Zeitpunkt ist kein Wort über seine Lippen gekommen, trotzdem klingt seine Erwiderung eher zaghaft als entrüstet: »Aber ich habe doch gar nichts gesagt?!« Und nun kommt die Antwort, die einen Erziehungsstil kennzeichnet, der alle Risiken und die Entwicklungen eines Kindes zum selbstbewussten Gegenüber ausschließen möchte: »Aber du wolltest!« Die Bibliothekarin und ich schauen uns lächelnd mit einem vielsagenden, wissenden Blick an. Nachdem ich das Buch »Was Kinder brauchen« von Armin Krenz gelesen habe, bin ich vorsichtiger geworden, mich über auch noch so exotisch anmutende Erziehungsvarianten zu überheben. In diesem Buch erlebe ich Seite für Seite, wie für mich ein neues Kinderbild entsteht. Und ich muss mir eingestehen, dass ich trotz langjähriger Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen jeden Alters und der ständigen Suche nach einer würdigen und angemessenen Erziehung von jungen Menschen noch keine besonders großen Fortschritte gemacht habe. Die heute viel zitierte und doch noch viel zu selten angewendete Achtung vor der »Würde des Kindes« spricht bei Armin Krenz aus jeder Zeile seines Buches. Und doch wird sie nirgends explizit erwähnt. Er gibt praktische Anleitung, wie sie im Alltag gelebt werden kann. Erfrischend lebendig sind die Schilderungen des Erfahrungswissenschaftlers Krenz, der durch seine Beratungen und Hospitationen seit Jahrzehnten mit dem pädagogischen Geschehen vor allem in Kindergärten verbunden ist. Dieses Buch ist nicht nur ein fachlicher Ratgeber für Kindergärten. Es vermag jedem suchenden Zeitgenossen für jedes Alter, für jeden Arbeitsund Lebensbereich anregende und wertvolle Hinweise für die Optimierung der Beziehung von Mensch zu Mensch zu geben. Krenz huldigt keiner pädagogischen Formation. Er zitiert Vorbilder unterschiedlichster Richtungen, aber immer mit dem Blick auf das Ziel: Kinder als »ernstzunehmende Akteure wahrzunehmen.« Erfrischend an Krenz ist auch, dass er die Brücke zwischen einer selbstbestimmten Entwicklung und einer frontalen Erziehung baut. Für ihn ist eine angemessene, aktive verantwortungsbewusste Begleitung der Kinder und Jugendlichen durch die Erwachsenen unverzichtbar.
Armin Krenz: Was Kinder brauchen. Aktive Entwicklungsbegleitung im Kindergarten. 176S., kart. EUR 19,90. Cornelsen Scriptor, Berlin 2010