Multikulti – und dann?

Martina Guthke

Ein Vortrag von Albert Schmelzer über die interkulturelle Schule zündete: Kurz darauf fanden sich 2010 im Berliner Seminar für Waldorfpädagogik Pädagogen, Sozialarbeiter und Sozialwissenschaftler zusammen, um den Mannheimer Impuls in der Hauptstadt aufzugreifen. Nach einigen erfolglosen Versuchen, einen geeigneten Standort in Berlin-Neukölln zu finden, eröffnete die Freie Interkulturelle Waldorfschule Berlin dann am 6. September 2016 in einem zweistöckigen Plattenbau in Berlin-Niederschöneweide mit einer ersten und einer jahrgangsübergreifenden zweiten und dritten Klasse. Heute, vier Jahre später, besuchen 183 Kinder verteilt auf sieben Klassen die Schule.

Die Schüler kommen vor allem aus den Bezirken Neukölln, Kreuzberg, Mitte, Wedding, Prenzlauer Berg, Köpenick und dem angrenzenden Brandenburger Umland. Anfangs war die interkulturelle Durchmischung der Klassen noch nicht gut gelungen. Heute hat die Hälfte der Kinder einen Migrationshintergrund, viele von ihnen wachsen in einem zweisprachigen Elternhaus auf. Neben der kulturellen Vielfalt in der Schüler-, Eltern- und Lehrerschaft wollen wir auch die sozialen Schichten durchmischen. Die Eltern bilden eine Solidargemeinschaft und setzen das Schulgeld in freier Selbsteinschätzung fest.

So ist es auch Kindern aus einkommensschwachen Familien möglich, an unserer Schule zu lernen. Seitdem wir uns am Standort Schnellerstraße etabliert haben, erleben wir von Jahr zu Jahr wachsende Anmeldezahlen. Zuletzt gab es 120 Anmeldungen für 30 freie Plätze in der kommenden ersten Klasse. Einerseits tragen dazu begeisterte und zufriedene Eltern und Kinder bei, indem sie uns weiterempfehlen, andererseits suchen viele Eltern eine Alternative zur öffentlichen Schule, von der sie oft enttäuscht sind. Eltern suchen heute bewusst freie Schulen, die offen und tolerant für verschiedene Sprachen, Kulturen und Religionen sind. Für die Aufnahme in unsere Schule  sind neben der Schulreife noch andere Faktoren wichtig. Wir wollen erreichen, dass allen Kindern unabhängig von Sprache, Hautfarbe, Religion oder gesellschaftlicher Stellung der Eltern – vom Unternehmer bis zum Hartz IV-Empfänger – ermöglicht wird, unsere Schule zu besuchen. Es ist auch nicht entscheidend, ob das Kind einen Waldorfkindergarten besucht hat oder nicht. Die Begegnung steht im Vordergrund, sei es durch das Interesse der Lehrer an den Schülern und Eltern oder durch das gemeinsame Feiern von Festen, auf denen man unterschiedliche Traditionen kennenlernt und bei denen die Eltern in die Vorbereitung und Durchführung einbezogen sind. So war das gemeinsame Fastenbrechen zum Ende des Ramadans im vergangenen Schuljahr für alle Beteiligten eine wunderbare Erfahrung.

Interkulturelle Schülerschaft

Doch was bedeutet »interkulturell« für unsere Schule? Unser Standort ist nicht in Neukölln oder Kreuzberg, wo es einen sehr hohen Anteil an Migranten gibt. Wir arbeiten und unterrichten im angrenzenden Ortsteil Baumschulenweg, der zum Bezirk Treptow-Köpenick gehört, wo die Zahl der Migranten weniger hoch ist. Trotzdem nehmen viele Eltern einen längeren Schulweg auf sich und bringen ihre Kinder aus vielen verschiedenen Kulturen zu uns. Unser Ziel ist eine bewusste Begegnung, das Aufeinanderzugehen, das Verstehen und das Von- und Miteinander-Lernen auf wertschätzender Ebene. Dann können wir Vorurteile abbauen und langsam ein tiefergehendes Verständnis für den anderen entwickeln. Kein Kind oder Elternhaus soll sich auf Grund seiner Religionszugehörigkeit oder Nationalität an der Schule diskriminiert fühlen.Die Normen der Gemeinschaft sind nicht aus deutscher oder christlicher Perspektive festgelegt. Dadurch lässt sich die Schule auf das Abenteuer ein, das Gemeinsame in der Begegnung verschiedener Kulturen neu zu finden. Damit steckt die Schule noch in den Kinderschuhen, was ihr pädagogisches Konzept immer wieder in Frage stellt, aber auch für weitere Entwicklungen offen hält.

Zentral ist die Sozialarbeit

Eine zentrale Rolle nimmt die Waldorfschulsozialarbeit von Fridtjof Meyer-Radkau ein. Meyer-Radkau kümmert sich um eine gute Kommunikation zwischen Eltern, Lehrern und Schülern und ist Ansprechpartner für soziale Fragen. Fridtjof, wie ihn die Schüler, Lehrer und Eltern nennen, ist immer der erste Ansprechpartner für die kleinen und großen Streitigkeiten. Er hat für alle ein offenes Ohr und findet durch sein Zuhören und seine gute Netzwerkarbeit immer einen Ausweg.

Es ist uns bereits gelungen, die Heileurythmie, die Einzelförderung und die Förderung und Pflege der deutschen Sprache (Deutsch als Vertiefungssprache / DaV) zu etablieren. Die Überwindung der Sprachdefizite hilft gegen die Benachteiligung im gesellschaftlichen Leben. Seit einem Jahr wird das Fach Kulturstunde statt des freien Religionsunterrichts in der 6. Klasse unterrichtet. Von den Sprachlehrern wurde nach langem Ringen ein neues Sprachkonzept erarbeitet, das zum Beginn des neuen Schuljahres 2020/21 eingeführt wird. Es sieht vor, dass alle Kinder ab der 1. Klasse zusätzlich zu Englisch verbindlich am Türkisch- oder Arabisch-Unterricht teilnehmen, zunächst im Sinne einer »Begegnungssprache«. Außerdem kommt für alle Kinder ab der 4. Klasse Spanisch hinzu.

Immer wieder neue Herausforderungen

Räumlich ist die Schule ziemlich beengt. Wir stoßen schon mit dem neuen Schuljahr an unsere Grenzen. So wird es bis zum Jahresende Doppelbelegungen der Räume durch Klassenlehrer und Nachmittagsbetreuung geben, weil ein Nebengebäude noch umgebaut wird. Doch auch dieses wird nicht ausreichen, um die Schule voll ausbauen zu können. Falls wir uns nicht vor Ort entsprechend vergrößern können, benötigen wir bereits in zwei Jahren einen neuen Standort.

In Berlin gibt es, anders als in anderen Bundesländern, eine fünfjährige Wartefrist, bis eine freie Schule bezuschusst wird. Fünf Jahre lang werden keinerlei Zuschüsse durch den Senat gewährt, das heißt, auch unsere Schule muss sich verschulden und danach den Schuldenberg abtragen. Ab August 2020 befinden wir uns im fünften Jahr. Und dieses Jahr wird unsere größte finanzielle Herausforderung. Ohne die Unterstützung von privaten Stiftungen, Bürgschaften durch befreundete Schulen sowie Elternbürgschaften und kleinen und großen Spendern könnten wir finanziell nicht überleben.

Zur Autorin: Martina Guthke arbeitet in der Schulverwaltung der Interkulturellen Waldorfschule Berlin.

berlin.interkulturellewaldorfschule.org