Drachenpferd, Holzwurm und Kamel. Das Prüfungswesen muss sich verwandeln!

Holger Grebe

Die Chinesen müssen es wissen: Schon 600 n. Chr. etablierten sie im Kaiserreich die jährlichen Beamtenprüfungen – streng hierarchisch gegliedert und generalstabsmäßig geplant als Provinz-, Hauptstadt- und Palastexamen. Tausende von einfachen und streng getrennten Prüfungszellen sind überliefert. Hier absolvierten die Probanden mehrere Tage hintereinander ihre Examina unter strenger Aufsicht – bei Wind und Wetter. Schon damals fanden sich alle Kuriositäten modernen Prüfungswesens, mit denen sich auch heutige Abiturienten und ihre Lehrer herumschlagen müssen: strengste Klausur, amtlich-linierte Prüfungsbögen, festgelegte Korrekturzeichen, Musterlösungen und Betrugsversuche. Hohe kaiserliche Beamte reisten zur Leitung der Examen je nach Entfernung zwischen 20 und 90 Tage lang an. Um das Korrekturritual zu objektivieren und die Handschrift zu tilgen, wurden extra Abschriften der Prüfungsarbeiten angefertigt. Was für ein Aufwand!

Beamtenprüfungen als Exportschlager

1300 Jahre lang blieben diese Examina in China bestehen – ein Ausdruck ungeheurer Modernität, so scheint es. Im 17. Jahrhundert wurden diese hochspezialisierten Rituale eines rationalen Verwaltungsstaates über Jesuitenmissionare in Europa bekannt und im Zuge einer wachsenden China-Verehrung zum Exportschlager. Bei der Orientierung am kulturellen Vorbild Chinas spielten Frühaufklärer wie der Philosoph Christian Wolff an der Universität Halle eine große Rolle. In einer Universitätsrede von 1721 erhob er China zum Symbol eines neuen Menschen- und Staatsbildes. Dieses Bekenntnis erschütterte die theologischen Fakultäten in ganz Europa, provozierte 130 Streitschriften und führte zunächst zu Wolffs Verbannung aus Preußen. Wolffs Wirkung tat das keinen Abbruch. Herrscher wie Friedrich II. von Preußen verehrten ihn als geistigen Lehrer einer aufgeklärten Monarchie. Preußen hatte schon 1693 als erster europäischer Staat die schriftlichen Beamtenprüfungen aus China übernommen. Der zentralisierende Prüfungsimpuls erreichte wenige Generationen später auch die Schulen. Denn das preußische Abiturreglement von 1788, das sich 1834 im gesamten Gebiet des damaligen Deutschen Bundes als Zugangsberechtigung für die Hochschule durchsetzte, prägte auch bei uns die Entwicklung der Schulpädagogik. Seither scheint es wichtiger, dass Examina einen Heranwachsenden zu etwas berechtigen, als ihn zu befähigen. Mit den Konsequenzen der Prüfungspädagogik kämpfen auch die Waldorfschulen bis heute.

Haben die Juristen inzwischen den Kampf um die Lufthoheit gegenüber den Pädagogen gewonnen?

Prüfung als Nadelöhr

Auf den ersten Blick sind die Beamtenprüfungen ein Ausdruck von Modernität. Denn während in Europa Staatsämter noch lange aufgrund von Verwandtschaft mit dem Adel und der Nähe zur Kirche vergeben wurden, zählte in China Leistung statt Herkunft. Die Anforderungen an die Gedächtniskräfte waren bei der Prüfung enorm. Im Mittelpunkt der Examina stand das Werk des größten chinesischen Philosophen Konfuzius mit 430.000 Zeichen. Aus dessen Schriften stammten die Themen, über die ein sogenannter achtgliedriger Aufsatz verfasst werden musste. Ein festgelegter Kanon anerkannten Wissens musste also komplett und detailgetreu wiedergegeben werden oder war für Erörterungen parat zu halten. Ob der Gegenstand intellektuell durchdrungen war, ob der Kandidat in der Lage war, eigene Lösungen oder Konzepte zu entwickeln oder ob er gar kreative Kompetenzen hatte, fiel demgegenüber kaum ins Gewicht. Obwohl die Erfolgsquote schon auf unterer Ebene meist unter zehn Prozent lag, bewarben sich etwa Ende des 11. Jahrhundert jährlich rund 80.000 Kandidaten für frei werdende Stellen unter den damals 34.000 Beamten der chinesischen Monarchie. Nur 230 von ihnen sollen die Endprüfung jährlich bestanden haben! So waren die Examina das Nadelöhr zum sozialen Aufstieg. Da jedes Examen beliebig oft wiederholt werden konnte, gab es zahlreiche ältere Kandidaten. So wird von Zhan Qian aus der Provinz Jiangsu berichtet, dass er 1894 das Palastexamen erst bestand, nachdem er 35 Jahre mit Examensvorbereitungen verbracht und dabei 160 Tage in den Prüfungs­hallen schwitzt hatte. Wahrlich: die Ausdauer eines Kamels!

Chamäleon Abitur – Nimbus und Lebensferne

In Deutschland trat das Abitur bald einen erstaunlichen Siegeszug an. Dabei war die Lebensferne der Abiturprüfung schon im frühen 19. Jahrhundert mit Händen greifbar.

Kann die Regierungszeit des Kaisers Augustus mit Recht zu den glücklicheren Epochen des Römischen Reiches gezählt werden? Der Siebzehnjährige, der im Spätsommer 1835 am Gymnasium zu Trier vor diesem Aufsatzthema sitzt, muss hohe Anforderungen erfüllen. Um die Reifeprüfung zu erlangen, muss er sieben schriftliche Arbeiten in einer Woche unter Aufsicht abliefern. Die Besinnung auf das Römische Reich dauert fünf Stunden und sie muss in Latein abgefasst werden. Der Prüfling war niemand anderes als Karl Marx. Er absolvierte nur fünf Jahre Gymnasium und gehörte als einer der jüngsten doch zu den zehn besten Absolventen dieses Jahrganges. Von den damals 32 ausschließlich männlichen Schülern mit einem Durchschnittsalter von 20 Jahren fielen immerhin zehn durch die Prüfung.

Diese Quote hat sich inzwischen gründlich geändert. Der Aufstieg des Abiturs zur »Leitwährung« in Bildungsfragen ist offensichtlich. Während im 19. Jahrhundert nur etwa ein Prozent eines Jahrgangs die Schule als Abiturienten verließ, wuchs diese Zahl bis 1950 auf fünf Prozent. Mit der Bildungsoffensive nach 1968 schnellten die Zahlen dann auf über zwanzig Prozent nach oben. 1990 waren es bereits 31 Prozent, 2010 schon 49 Prozent – Tendenz steigend. Die Attraktivität des Abiturs scheint ungebrochen, zumal die Berechtigung zum Hochschulzugang gekoppelt ist mit gesellschaftlichem Status und der Verheißung ökonomischen Erfolgs – allen Einwänden gegen den »Akademisierungswahn« zum Trotz, wie sie zur Zeit etwa von dem Münchner Philosophen Nida-Rümelin vorgebracht werden.

Gefahren eines prüfungsfixierten Bildungsprozesses

Eine Prüfung hat nicht nur eine individuelle Seite, sondern auch eine systemische. Sie prägt vom Ende her den Gang, den ein Heranwachsender durch die Bildungsstätte nimmt. Die Regelungsenergie ergreift nicht nur die Bedingungen, unter denen Leistung erbracht wird, sondern auch Inhalte und von dort aus die Lehr- und Stoffverteilungspläne sowie die Methoden. Schließlich gilt der Grundsatz: Geprüft wird, was gelehrt wurde. Und es droht eine Sogwirkung, wenn nur noch gelehrt wird, was prüfbar gemacht werden kann. Die Liste der Abiturkritiker ist lang. So betonte der Gründer der Bielefelder Laborschule Hartmut von Hentig 1980: »Prüfungen lenken von dem ab, was richtigerweise gelernt werden soll«. Schon ein Schulmann der Weimarer Republik stöhnte in einer Art Nachruf auf das Abitur – man arbeitete gerade an seiner Abschaffung – über das »Prüfungsverfahren mit seiner ›kulturlosen Flachheit‹, das dem Schüler zur Qual, der Kommission zur Langeweile, dem Schulrat zum Anlass hoffnungsloser Melancholie gereichte«.

Während die Fixierung auf Prüfungen den Bildungsprozess eines Schülers zu korrumpieren droht, weil sie weder auf Nachhaltigkeit zielt noch dessen Kreativität fördert – wird auf Lehrerseite die vornehme Aufgabe der Leistungsbewertung durch das Korrekturritual bedroht. Mancher Prüfungslehrer degeneriert zu einer Korrekturmaschine. Die Verwandlung von Qualitäten (Lernprozessen) in Quantitäten (Noten), wie sie im Prüfungsverfahren üblich ist, mag Juristen überzeugen. Pädagogisch ist sie hochproblematisch.

Aufschlüsse statt Abschlüsse

Angesichts dieser zwiespältigen Gesamtlage muss man Dietrich Esterl, dem langjährigen Oberstufenlehrer an der Stuttgarter Uhlandshöhe und Dozenten an verschiedenen Seminaren zustimmen, der schon vor Jahren den Waldorfkollegien zurief: »Aufschlüsse statt Abschlüsse«. Die Waldorfschule muss zwar auf Abschlüsse vorbereiten, solange keine alternativen Leistungsnachweise als Hochschulzugang anerkannt sind. Aber der eigentliche Auftrag besteht darin, Biografien aufzuschließen. Wofür? Für die schöpferische

Dimension der eigenen Persönlichkeit, die einzigartigen Begabungen der Individualität, die gerade nicht vergleichbar sind. Vor dem Hintergrund eines zeitgenössischen Begriffs von Reife, der in seiner Erscheinungsform als mittlere oder Hochschulreife nur noch ein formaljuristisches Schatten­-dasein fristet, täten wir gut daran zu fragen: Woran erkennen wir die reife Schülerpersönlichkeit? Lässt sich unser Entwicklungsziel pädagogisch-menschenkundlich beschreiben? Dabei stehen wir vor einem Dilemma: Je mehr die Leistung aus juristischen Gründen messbar sein muss, desto mehr orientiert sich die Betrachtung am Ergebnis. Eine reife Persönlichkeit zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie die Qualität ihrer Handlungen – also von Prozessen – im Blick hat. Die Leistungsbewertung muss wieder in den pädagogischen Raum zurückgeholt werden. Dazu gehört, Schüler am Bewertungsvorgang zu beteiligen, statt sie nur zu Opfern einer Benotung zu machen.

Wertschätzen statt bewerten

Der bewertende Blick muss durch den wertschätzenden Blick ergänzt werden. Schulentwickler wie Felix Winter, Rüdiger Iwan oder Frank de Vries nennen das »Bewerten im Dialog«. Diese dialogische Form der Bewertung ist inzwischen in der Portfolio-Kultur als Abgleich von Selbstbild und Fremdbild fest verankert. Welche Wohltat, wenn ein Zehntklässler bemerkt, dass er seine selbst erstellte und gestaltete Portfolio-Mappe zur Poetik auch der literarisch interessierten Großmutter in die Hand drücken kann, um eine »beauftragte Bewertung« einzuholen! In Schulen, die sich um eine andere Bewertungskultur bemühen, müsste es selbstverständlich sein, dass sich die am Bildungsvorgang Beteiligten gegenseitig eine Rückmeldung geben – offen, transparent und auf der Grundlage jener Wertschätzung, die Lernvorgänge erst möglich macht. Die Lehrer könnten damit anfangen, indem sie sich regelmäßig hospitieren und in brüderlicher Geste spiegeln, was sie beim Kollegen sehen und erleben. Den Schülern könnten am Ende einer Epoche gemeinsame Rückmelderunden angeboten werden, wo sie den Blick weg von Stoffen und Ergebnissen und hin zu Lernprozessen lenken. Was hat mich besonders angeregt und warum? Was hätte ich gerne vertieft? Und wo habe ich einen Fehler gemacht, der sich im Nachhinein als fruchtbar herausgestellt hat? Auch das ist ja ein Zeichen von Reife: dass der Fehler nicht nur vom Rotstift des Korrektors markiert und damit diskriminiert wird. Zur Reife gehört die Einsicht, dass eine Entwicklung nur stattfindet, wenn Fehler möglich sind. Auch die öffentlichen Präsentationen, die zu den guten Gewohnheiten an unseren Schulen gehören, sollten in ihrem Prüfungscharakter neu entdeckt und gewürdigt werden. Denn sie bieten ja immer auch eine Form, Rechenschaft abzulegen für das eigene Tun.

Wer seine Arbeit für die Schulöffentlichkeit transparent macht, sei es bei der Aufführung von Moritz Rinkes »Nibelungen«, bei der eurythmischen Gestaltung eines Prélude von Bach oder in der Präsentation einer Jahresarbeit über Regionalgeld, der lässt sich prüfen. Als Lehrer sollten wir auf diese Vorgänge nicht nur pragmatisch blicken, sondern mit einem Gespür für angemessene Schwellenübergänge, die es dem Heranwachsenden ermöglichen, über sich hinauszuwachsen. Die Verwandlung des Prüfungswesens ist ein dringender Gestaltungsauftrag an die Waldorfschulen. Vielleicht gelingt es langfristig, mit dieser Energie im Hintergrund auch die Juristen mit ins Boot zu holen. Dann hätten wir als Reifeprüfung keine Reproduktionsrituale mehr, sondern Examina aus einem an menschlicher Innovationsfähigkeit orientierten Geist. ‹›

Zum Autor: Holger Grebe ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an den Waldorfschulen Balingen und Rottweil. Der Autor arbeitet z.Zt. an einer von der Pädagogischen Forschungsstelle geförderten Publikation zum Thema »Aufschlüsse statt Abschlüsse«.

Kontakt: holger.grebe@arcor.de

Literatur: C. von Collani: Von Jesuiten, Kaisern und Kanonen. Europa und China – eine wechselvolle Geschichte, Darmstadt 2012; R. Bölling: Kleine Geschichte des Abiturs, Paderborn 2010; H. von Hentig: Die Krise des Abiturs und eine Alternative, Stuttgart 1980; Henrik Jäger: Konfuzius als Katalysator der Aufklärung, FAZ vom 11.08.2012; Julian Nida-Rümelin/Klaus Zierer: Auf dem Weg in die neue deutsche Bildungskatastrophe. Zwölf unangenehme Wahrheiten, Freiburg 2015; Bruno Sandkühler: Normschüler fürs Abitur oder Bildung von Persönlichkeiten? Zeitschrift »waldorf« Nr. 12, Oktober 2003; Frank de Vries: Kompetenznachweis und Lernbegleitung in Waldorfschulen. Ein Handbuch, Stuttgart 2011