Was wir in Coronazeiten wirklich vermissen

Marianne Esger-Kraft

Die Voraussetzungen für wirkliche Begegnungen sind während des Homeschoolings und danach im Präsenzunterricht mit Masken denkbar schlecht. Unser Anliegen, junge Menschen in ihrer Entwicklung zu begleiten, war schon vor Corona unter normalen Bedingungen eine tägliche Herausforderung. Sie gestaltet sich vor allem in und durch Beziehung, die sich in der realen Begegnung bildet. Immer gilt es, den einzelnen Schüler sowie die Gesten der Gemeinschaft gut lesen zu können. Die eigenen Grenzen des Verstehens sind zu erweitern. Wie soll das gehen in einer  Zeit, in der soziale Distanz und MNS die Leitidee sind?

Die leitenden Fragen meiner Unterrichtsvorbereitung sind: Wie weckt Unterricht Interesse? Wie werden freudige Erlebnisse angeregt? Wie unterstützt die tägliche Arbeit die gesunde Entwicklung der Heranwachsenden?

Und nun soll ich das tun, ohne die Schüler als Gegenüber? Statt mit jungen Menschen in Gemeinschaft, arbeite ich mit Maschinen als meinem nächsten Gegenüber. Und doch – ich bemerke es erstaunt: Meine Vorbereitungsfragen bleiben die gleichen. Sie werden jedoch existenzieller. Ja, ich muss sie noch viel ernsthafter bewegen und differenzierter bedenken. Denn meine Wahrnehmungsmöglichkeiten sind nur noch auf wenige Kanäle beschränkt und finden nicht mehr die gewohnten Räume vor.

Wie will mir das Neue entgegenkommen, was tritt an die Stelle des Gewohnten? Vor allem gilt es, die Zuversicht nicht zu verlieren. Ich suche das innere Gespräch Tag und Nacht. Wie gut, dass ich die Inspiration der Nacht als meinen Helfer ernst nehme und das Kopfkissen am Morgen Geschenke bereithält. In der Anfangszeit der Schulschließung fühle ich mich den Klassenlehrern meiner Schule verbunden. Im kollegialen Austausch erlebe ich, wie eine ungeheure Ideenvielfalt entsteht und jeder bereit ist, sich mitzuteilen, seine Erfahrung und sein Wissen zu teilen. Soweit ich den Kontakt halten kann und nicht in der Arbeit untergehe, erlebe ich auch bei den Kollegen die uns verbindende, salutogenetische – gesundheitsbezogene – Haltung gegenüber den Schülern.

»Wie kann ich dafür sorgen, dass die Schüler an den schulischen Aufgaben interessiert arbeiten, sich am Inhalt entwickeln und seelisch gesund bleiben?« Während des »Lockdowns« bin ich für meine 6. Klasse telefonisch erreichbar. Schüler-Telefonate sind für mich Begegnungen einer neuen Art. Es fehlt die Wahrnehmung des Mienenspiels, der Gesten, die Bände sprechen. Nur die verzerrte, fremd klingende Stimme nehme ich wahr. Ich lerne das Zuhören neu. Mein Verstehen-Wollen geht durch die Worte der Schüler hindurch. Die Antwort auf die Frage: »Wie geht es dir?« ist die Schale, die geknackt werden muss. Das Ablesen der Gestimmtheit bezüglich der Situation zu Hause und der schulischen Angebote gelingt mit den Wochen besser. Ich bin noch nicht zufrieden mit dem, was ich erlauschen kann. Wie sehr ist meine Wahrnehmung durch die Augen bestimmt! Übungsmöglichkeiten gibt es auch weiterhin reichlich. Einige der Schülerinnen haben Freude am anlassbezogenen Telefonieren bekommen. Sie bleiben auch während des anschließenden Präsenzunterrichts dieser Kommunikationsform verbunden. Manche finden so die Nähe zur Lehrerin, andere machen sich durch das kurze Telefonat vom Rat der Eltern unabhängig. Ich bemerke, dass diese Kontaktform gut in dieses Lebensalter passt. Die durch das Medium gewonnene Distanz kann also auch verbinden. Ich erlebe, wie ich an dieser hinzugewonnenen Form der Beziehungspflege Freude habe! Ich entschließe mich, Woche für Woche einen bunten Blumenstrauß zusammenstellen, in dem jeder Schüler etwas findet, an dem er sich freuen kann: das Schreiben eines Gedichtes, das Entdecken von Gesetzmäßigkeiten in Nebensätzen, Text- und Knobelaufgaben im Rechnen, Rechercheaufgaben zu Flüssen und Gebirgen und Atlasarbeit. – Hat der Strauß eine »Duftnote«? Durch diese könnten Karl oder Frieda das Gefühl haben: »Diese Woche sind die Blumen speziell für mich gebunden!« Welche Interessen und Fähigkeiten muss ich dringend bedienen?

Das Kunstprojekt zum Wochenauftakt, das weiß ich aus den Rückmeldungen, erwarten viele der Sechstklässler mit Vorfreude. Manchmal wird die Arbeit so intensiv, dass der weitere Unterrichtsstoff, die Sprachen oder die Mathematik, liegen bleibt. Letzteres ist eine nicht wirklich »bedauerliche« Folge, da diese Intensität mein angestrebtes Ziel war. Es geht um die Begegnung mit dem Schönen, die Vertiefung des Künstlerischen. Im eigentlichen Wortsinn will das Ästhetische zur inneren, aber auch äußeren Tätigkeit »(ver)führen«. Daran kann die Seele gesunden und gesund bleiben. Neben dem »Grünzeug«, das dem Strauß die Fülle gibt und an dem vor allem vielfach  geübt werden kann – wir kennen alle die Arbeit am Rechenblatt oder den Rechtschreibthemen –, braucht es dringend die Einzelblumen. In der Nachbereitung der Einheiten bewegen mich die Fragen: Welche besonderen Interessen und Spezialgebiete spreche ich an? Konnte ich genügend gedankliche Herausforderungen einbinden? Sind die Mathematiker gut versorgt? Findet sich genügend Klarheit im Paket? Haben die Schüler, die sich liebend gerne schreibend vertiefen, interessantes Futter? Denn dies wird im Homeschooling rasch klar: Sollen die Mittelstufenschüler zu Hause selbstständig in ein vertieftes Arbeiten kommen und sich Inhalte konzentriert erarbeiten können, dann muss ein thematischer Funke überspringen. Der Strom, der im Unterricht trägt und die Kraftaufwendung des Einzelnen relativiert, steht nicht zur Verfügung.

In unserem Fall war zu Beginn des Lockdowns von großem Vorteil, dass die Europa-Epoche anstand und wir kurz zuvor Themen und Kleingruppen für Referate verabredet hatten. Neben dieser mehr pragmatischen Seite kam mir auch die »Ideenebene« entgegen, denn die EU ist ja eigentlich ein großes Klassenzimmer. Jedes Land hat seine Interessen.

Jeder muss den anderen respektieren, damit ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Und es gibt die Stärkeren, die Schwächeren und diejenigen, die helfen können. »In Vielfalt geeint« ist das europäische Motto, das auch im Klassenzimmer gilt. Es ist die Zeit, in der in den Medien erschreckende Bilder aus unseren Nachbarländern gezeigt werden. Einzelne Schüler verfolgen die Nachrichten. Sie formulieren die nachbarschaftliche Hilfe, die Deutschland den Franzosen durch die Aufnahme von Intensivpatienten zukommen lässt. Andere hinterfragen die geschlossenen Grenzen, was man als 12- bis 13-Jähriger aus eigener Erfahrung nicht kennt. Europa rückte Corona-bedingt noch einmal anders in den Blick!

Doch wo und in welcher Form kann das selbstständig Erarbeitete »präsentiert« werden? Das Gemeinschaftserlebnis ist wichtig! Über welches Medium wird das Erarbeitete transportiert? Gibt es Beschränkungen? Wonach steht den Schülern und den begleitenden Eltern der Sinn? Was kann ich mir als digitaler Laie in der Kürze der Zeit aneignen?

Es gibt zu diesem Zeitpunkt und an dieser Stelle kein »Das darf nicht sein!«. Wir haben in der Klassengemeinschaft schon immer die Verschiedenheit mit hoher Akzeptanz gelebt. Es geht für alle darum, Erfahrungen zu sammeln. Wir haben Videokonferenzen in der kleinen Runde. Mit gewohnter Ernsthaftigkeit und großem inhaltlichem Engagement besprechen die Schüler ihre Arbeiten. Wir bereiten die große Konferenz mit allen Schülern vor. Die Teilnahme am Angebot »Videokonferenz« bleibt freilassend, denn das Referat gibt es immer auch noch im Textformat, manches Mal auch als Audio-Datei. Als »Host« mache ich Fehler, die die Schüler großmütig entschuldigen. Natürlich erlauben sich Einzelne während der Konferenz »Parallelschauplätze«. Wie sollte es auch anders sein? Das kennen wir doch aus dem Klassenzimmer! Was war gut an den digitalen Konferenzen? Wir haben uns gemeinsam auf den Weg gemacht!

Die Schüler konnten sich endlich einmal wieder wahrnehmen. Was der Bildschirm in diesen rund 90 Minuten gezeigt und ermöglicht hat, hat nicht nur mich tief berührt: den traurigen Fritz oben links, den zappeligen Franz daneben, das Feld der Extra-Wurst Clara unten in der Mitte war immer mal schwarz, der lauschende Karl rechts, die interessierte Laura mittig, die fleißig mitschreibende Lilli am Rand. Karlo stand zeitweise auf dem Kopf und erfreute sich an den Mitschülern. Frieder ist der, der im Klassenzimmer die meisten Briefchen schreibt; dass er nebenbei am Chatten war, braucht nicht erwähnt zu werden. Uta fehlt, sie wird von einer Studentin der Freien Hochschule individuell beim Erstellen des Referates begleitet.

Und zum Schluss die Rückmeldungen der Eltern: Es war für die Kinder so beglückend! Endlich konnten sie sich einmal wieder wahrnehmen! Mio hat nicht nur ein Tränchen verdrückt! Mir wird deutlich, was die Mittelstufenschüler während des Lockdowns vor allem vermisst haben, was für ihre Entwicklung so wichtig ist und wovon unser Unterricht in der Schule lebt: ihre Klassengemeinschaft, die Gleichaltrigengruppe.

Zur Autorin: Marianne Esger-Kraft ist Klassenlehrerin an der Michael-Bauer-Schule in Stuttgart.