Wissenschaft

Wasser ist ein unlebendiges Medium, aber die Voraussetzung für alles Leben

Foto: © Charlotte Fischer

Erziehungskunst | Wie sieht Ihre Forschung aus? Was tun Sie konkret?

Meinhard Simon | Meine Forschungstätigkeit ist enorm vielfältig. Zum einem arbeiten wir mit repräsentativen Bakterien in Rein- oder Mischkulturen im Labor und untersuchen ihre Lebensbedingungen. Von welchen Nährstoffen leben sie, welche Zucker oder Aminosäuren werden von ihnen verstoffwechselt, welche Vitamine benötigen oder produzieren sie? Vielfach können sie nur zusammen mit anderen Bakterien gut leben, von denen sie bestimmte Nähr- oder Wachstumsstoffe erhalten, zum Beispiel Vitamine, oder auch mit Phytoplanktonalgen, von denen sie organische Nährstoffe wie Proteine und Kohlenhydrate erhalten, die sie weiter abbauen. Die Bakterien isolieren wir in der Regel aus Meerwasserproben, die wir aus der Nordsee, aber auch aus anderen Meeren gewonnen haben.

Um die Zusammensetzung und Bedeutung der Bakteriengemeinschaften in den Meeren zu untersuchen, unternehmen wir aber auch ausgedehnte Expeditionsfahrten mit Forschungsschiffen. Wir nehmen Wasserproben aus verschiedenen Tiefen und untersuchen die Zusammensetzung der Bakteriengemeinschaften und Stoffwechselleistungen. Hierbei verwenden wir molekularbiologische Methoden zur Identifizierung der Bakterien und zur Sequenzierung ihrer Genome, um so die im Genom kodierten Stoffwechselleistungen zu entschlüsseln. Die Analysen finden erst nach Ende der Fahrten statt und umfassen chemische und molekularbiologische Auswertungen mit bioinformatischen Methoden. Auf den Expeditionsfahrten arbeiten wir immer sehr eng mit anderen Meeresforscherkollegen zusammen, die das Phytoplankton, zum Teil auch das Zooplankton, und vor allem die chemischen und physikalischen Bedingungen der Meeresgebiete untersuchen. Denn wir brauchen für das richtige und umfängliche Verständnis der Lebensbedingungen der Bakteriengemeinschaften unbedingt Kenntnisse über die biologischen, chemischen und physikalischen Bedingungen, in denen sie leben. Sie sind in tropischen Meeren ganz anders als in der gemäßigten Zone mit ausgeprägten Jahreszeiten oder den stets kalten Subpolar- und Polargebieten oder in oberflächennahen, durchlichteten oder kalten und dunklen Meeresschichten. Ent­sprechend unterscheiden sich die dort vorkommenden Bakteriengemeinschaften zum Teil fundamental.

EK | Woran krankt das lebendige Wasser der Ozeane?

MS | Zunächst etwas zur Klarstellung: Wasser selbst ist nicht lebendig. Es ist ein Medium, das völlig unlebendig, aber absolute Voraussetzung für alles Leben ist. Es ist lebenspendend und -erhaltend, gerade dadurch, dass es so viele Substanzen in sich lösen kann, die für das Leben von Organismen essenziell sind. Aber zu Ihrer Frage: Ich möchte darauf antworten, indem ich auf die heutige Situation der Lebensgemeinschaften in den Ozeanen eingehe. Vier Themen gehören aktuell zu den wichtigsten.

1) In vielen Küstenmeeren sind die natürlichen Bedingungen heute durch den menschlichen Eintrag von Nähr- und Schmutzstoffen so verändert, dass auch die Ökosysteme dort sich stark verändert haben. Die Produktivität des Phytoplanktons hat sehr zugenommen, wodurch der Abbau der gebildeten organischen Substanzen und der dafür verbrauchte Sauerstoff entsprechend abgenommen haben. Hinzu kommt der Eintrag von Nährstoffen und Antibiotika durch Aquakulturen, in denen Lachse und Garnelen auf engem Raum in Massentierhaltung gezüchtet werden. Und in den Tropen und Subtropen werden durch Aquakulturen und Bebauung Mangrovengebiete sehr stark geschädigt, die eigentlich sehr gute Schutzzonen gegen Tsunamis und tropische Wirbelstürme darstellen.

2) Überfischung. Durch den industriemäßigen Ausbau der großen Fischfangflotten sind große Teile der Weltmeere im Atlantik inkl. der Nordsee, im Mittelmeer, in vielen küstennahen Regionen des Indiks und Pazifiks heute völlig überfischt. Das hat nicht nur zur massiven Abnahme oder zum regionalen Aussterben der Fischpopulationen geführt, sondern auch zu Veränderungen in den Nahrungsketten. Denn wenn bestimmte Glieder darin nicht mehr oder nur noch vermindert vorhanden sind, verändert sich das gesamte Gefüge der Nahrungskette, meist hin zu einer größeren Bedeutung und einem größeren Anteil der niederen und kleineren Glieder, also des Planktons insgesamt.

3) Die Erwärmung der Meere. Die Erwärmung der Meere durch den Klimawandel führt in sehr vielen Regionen zu massiven und nur sehr langfristig reversiblen Veränderungen. Das betrifft zum Beispiel das Nordpolarmeer durch das Zurückgehen des Packeises, den Verlust des Lebensraums nicht nur der Eisbären, sondern auch anderer daran gebundener Tiere. Gleichzeitig breiten sich dadurch dort immer stärker Planktonblüten aus, was zu einer Veränderung führt, deren Folgen noch gar nicht richtig abgeschätzt werden können. Und es führt zum Abschmelzen der Eiskappen, vor allem auf Grönland, aber inzwischen auch auf Teilen der Westantarktis, was zu einem weiteren Anstieg des Meeresspiegels mit allen damit zusammenhängenden Folgen führt. Die Erwärmung betrifft aber auch die zeitliche Entwicklung von Nahrungsketten. Phytoplankton, Zooplankton und Fische haben unterschiedlich temperaturabhängige Entwicklungszyklen. Bei einer erhöhten Temperatur entwickeln sich bestimmte Kleinstkrebse des Zooplanktons schneller, so dass den Fischlarven, die sich bei leicht erhöhten Temperaturen kaum schneller entwickeln, weniger Nahrung aus dem Zooplankton zur Verfügung steht. So etwas hat enorme Konsequenzen, die vielfach erst dann wahrgenommen werden, wenn dadurch der Fischfang auch in Gebieten zurückgeht, die noch wenig von Überfischung bedroht sind.

4) Das Absterben von Korallenriffen. Hier sind sehr viele Gebiete betroffen: in der Karibik, im Roten Meer und vor allem im Großen Barriereriff im Südwestpazifik.

Bei den dort schon sehr hohen Wassertemperaturen von 27-30°C führt eine weitere Erhöhung um wenige Grade zu katastro­phalen Folgen. Hinzu kommt vielfach noch, dass die Riffe durch Nährstoffeintrag weiter geschädigt werden. In den betroffenen Gebieten verändern sich die Korallenriffökosysteme hin zu einer Abnahme von Vielfalt und zum Vorherrschen weniger Arten von Fischen oder einer massiven Zunahme von Seesternen und Seeigeln.

Mit all diesen Phänomenen hält uns die Natur einen Spiegel vor, der unser Fehlverhalten gegenüber der Mitwelt vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts ungeschminkt aufzeigt. Sie richtet den dringenden Appell an uns, unser Verhalten grundsätzlich zu ändern und sie als unseren Partner wahrzunehmen und mit ihr entsprechend umzugehen.

EK | Im Hinblick auf das »Leben im Wasser«: Was zeichnet Nachhaltigkeit aus?

MS | Für mich zeichnet sich Nachhaltigkeit vor allem dadurch aus, dass ich selbst versuche, wo immer möglich, sowohl im Privaten als auch bei meiner beruflichen Tätigkeit, die Konsequenzen meines Handelns möglichst umfassend zu bedenken. Denn es hat Auswirkungen auf die Natur, die Mitwelt, aber auch auf andere Menschen, genauso wie der Stoffumsatz der Mikroorganismen, der vor allem in ihrer Umgebung die Umwelt verändert. Das versuche ich mitzubedenken, auch wenn das nicht immer vollumfänglich möglich ist.

EK | Was ist aus Ihrer Sicht der genuin anthroposophische Beitrag in der Nachhaltigkeitsdebatte?

MS | Das ist eine nicht so leicht zu beantwortende Frage. Zwei Aspekte sind tatsächlich genuin anthroposophisch und sollten noch viel stärker als bisher als solche dargestellt werden. Lebewesen werden nicht nur »Wesen« genannt, sondern sind tatsächlich physischer Ausdruck einer Wesenheit, die übersinnlich existiert. Das gilt auch für Lebensgemeinschaften und Landschaften. Daher ist es anthroposophisch durchaus richtig und sachlich konsequent, die in der Natur vorhandenen Wesen als Wesenheiten wahrzunehmen und mit ihnen in ein Ich-Du-Verhältnis zu treten. In diesem Bewusstsein zu leben, hat Konsequenzen für mein Handeln. Ich gehe anders mit etwas um, je nachdem, ob ich es als Wesen oder als Ding auffasse. Das zweite ist, dass wir durch die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise und ihre Präparate etwas in der Hand haben, das nicht nur förderlich, sondern gesundend auf die Natur einwirkt. Das zeigt sich gerade darin, dass die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise sich inzwischen in vielen Untersuchungen als die nachhaltigste Landwirtschaft erwiesen hat.

EK | Oft wird der Mensch als Problem gesehen. Stimmt das? Ist er bloß ein Schädling, ohne den es der Natur besser ginge?

MS | Der Mensch wird heute als Problem angesehen, weil man nur auf seine schädigende Tätigkeit des letzten Jahrhunderts schaut. Dabei wird ganz vergessen, dass unsere Kulturlandschaften mit ihrer Artenvielfalt erst durch die menschliche Tätigkeit im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit entstanden sind. Auch Naturschutzgebiete entstehen durch menschliche Tätigkeit oder werden durch den Menschen gepflegt. Bei den Meeren sieht das etwas anders aus. Hier gibt es keine solchen Landschaften, höchstens an den Küsten. Ein nachhaltiger und verantwortungsbewusster Umgang mit der Natur und Umwelt im Sinne der Ich-Du-Beziehung wird sich aber auch positiv auf die Meere auswirken und dazu beitragen, dass sie sich zum Beispiel in Küstenregionen regenerieren. In diesem Sinne sehe ich den Menschen durchaus auch als Nützling der Meere.

EK | Was sollten Schüler heute lernen, um das Leben der Meere und der Ozeane nachhaltig zu fördern?

MS | Der Waldorflehrplan enthält eine Reihe von Elementen, die Schüler ganz gut darauf vorbereiten, mit der Natur und der Mitwelt in eine Ich-Du-Beziehung einzutreten. Dazu gehören die Landwirtschaftsepoche in der 3. Klasse, der Gartenbau in der Mittelstufe, das Landwirtschafts- oder Forstbaupraktikum in der 8. oder 9. Klasse und die Erdkundeepochen in der 9. und 10. Klasse. Sie schaffen die Grundlage für die Entwicklung eines globalen Bewusstseins, das die Erde als Ganzes umfasst. Wenn in der Biologie der 11. Klasse die Mikroorganismen in ihrer Bedeutung für globale Stoffumsatzprozesse entsprechend behandelt werden, kann dieses Bewusstsein weiter gefördert werden. Ich weiß von verschiedenen Schulen, bei denen die Biologie in der 12. Klasse mit einem Praktikum am Meer und der Befassung mit Meerestieren verbunden wird. Behandelt man in diesem Zusammenhang die schädigenden Einflüsse auf die Meere, vor allem aber die förderlichen Maßnahmen, fördert das die Entwicklung eines Bewusstseins für den nachhaltigen Schutz der Meere. In alle Epochen und Praktika, die ich genannt habe, können aktuelle Fragen des richtigen und nachhaltigen Umgangs mit der Natur und den Meeren eingebracht werden. Wenn solche Inhalte dann auch von den Lehrerinnen und Lehrern kenntnisreich und engagiert dargestellt werden, tragen Waldorfschulen viel zur Entwicklung eines nachhaltigen Bewusstseins und zur entsprechenden Handlungsfähigkeit der Schüler bei.

EK | Was müssten Waldorfschulen heute konkret tun, um auch für die Ozeane nachhaltig zu sein?

MS | Zunächst erscheint es ja so, dass viele Waldorfschulen doch sehr weit weg von den Meeren liegen und wenig zu ihrem Schutz beitragen können. Aber wenn sie sich heute mit Fragen der Klimaneutralität beschäftigen und Konzepte und Zeitpläne zum Erreichen von Klimaneutralität entwickeln, ist das sicherlich eine gute Maßnahme, die zum langfristigen Schutz der Weltmeere beiträgt.

Genauso kann in den Schulküchen darauf geachtet werden, dass nur solche Fische angeboten werden, die aus nachhaltiger Fischerei kommen.

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