Wie kann man sich heute noch an das Thema Russland mit seinen verworrenen politischen und sozial-ökonomischen Strukturen heranwagen? So oder ähnlich mag der Leser zunächst empfinden, wenn er das neu erschienene Buch von Kai Ehlers zur Hand nimmt. Und dies umso mehr, da er in der Einführung zu lesen beginnt: »In einer Zeit, in der Ratlosigkeit in der Welt um sich greift, wird es immer wichtiger, nach Kräften Ausschau zu halten, die Zukunft bilden können.«
Auf der Suche nach solchen Werten, die er selbst als allgemeingültig bezeichnet, wandte sich das Interesse des Autors seit den frühen Achtziger-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in zunehmendem Maße der damaligen Sowjetunion zu, da sich dort die Umwandlung der sozialistischen Utopie in neue soziale Impulse und Alternativen exemplarisch, extrem und mit Folgen für die ganze Welt vollziehe.
Den Weg, den Kai Ehlers nun betritt, zunächst mehrfach als Tourist in der Sowjetunion, im Laufe der Jahre dann zunehmend aufgrund persönlicher und freundschaftlicher Beziehungen inzwischen in Russland, vergleicht er mit den Umgängen eines klassischen kretischen Labyrinths. Dieses ist nicht zu verwechseln mit einem Irrgarten, der von sich aus schon die Gefahr in sich birgt, auf Abwege zu geraten; es führt in sieben Umgängen, mal innen, mal außen um das Zentrum kreisend mit immer neuen Perspektiven und Erfahrungen letztendlich zu diesem hin. Auf seinen Reisen bis in die östlichsten Gebiete des riesenhaften Landes findet Ehlers Gesprächspartner und Freunde in den verschiedensten kulturellen und sozialen Zusammenhängen; schon diese Tatsache, begründet durch eine für westlich geprägte Menschen kaum gekannte Offenheit und spontane Gastfreundschaft, scheint ihm wesentliches Element des Herzschlags Russland.
Das Buch, das der Leser letztendlich in Händen hält, ist das Ergebnis einer solchen Begegnung – der fruchtbaren Auseinandersetzung mit dem Poeten, Schriftsteller und Journalisten Jefim Berschin. Eigentlich auch er ein lebender Zeuge der labyrinthischen Wandlungen: geboren in der »abtrünnigen« Dnjestr-Republik, die sich 1990 von der Republik Moldau abgespalten hat; nach 30 Jahren in Moskau aus bürokratischen Gründen wieder in seine Heimat geschickt, wo er in verschiedenen Kriegen als Berichterstatter Zeuge blutiger Auseinandersetzungen wurde. Er war zehn Jahre Redakteur der Moskauer Zeitschrift Literaturnaja gasjeta und arbeitet heute als freier Schriftsteller und Publizist. Sein eigentliches Anliegen ist jedoch die Poesie!
Schauplatz für das Zustandekommen des Buches ist eine typisch postsowjetische Etagenwohnung in einem Moskauer Vorort, in der sich nun Efim Berschin und Kai Ehlers gegenübersitzen, »Mikrofon und Bänder vor uns auf dem Tisch«, die Reise »ins Herz der russischen Wachstumskräfte beginnen und das Labyrinth der russischen Wandlungen betreten«.
Entsprechend der gewählten Symbolik eines Labyrinths nennt Ehlers seine Kapitel Umgänge, zunächst sieben an der Zahl, wobei die ersten drei mit dem Titel »im Labyrinth der russischen Wandlungen« überschrieben werden, dem vierten und den folgenden geht die Überschrift »Labyrinthische Wende« voraus.
Den Beginn des Labyrinths – wie könnte es anders sein – stellt die verworrene Situation dar, in der Russland sich befindet, eine Zeit der Smuta, der Unruhe, des Aufruhrs und der Wirren, in der politischen und gesellschaftlichen Geschichte des Landes durchaus kein Novum, sondern vielmehr fester Bestandteil, wie Berschin zu berichten weiß: »Eine Smuta ist der nicht mehr regierbare soziale Protest, der durch misslungene Reformen seitens der herrschenden Klasse, der Elite, entsteht« – und dies bereits seit der Zeit nach dem Tod Ivans IV. Ehlers leitet jedes Kapitel mit einigen erklärenden Sätzen zum Thema ein, worauf die Wiedergabe des jeweiligen Dialogs in sehr authentischer und erfrischender Art folgt, bis hin zur Berücksichtigung der Gestik und des Minenspiels, das einmal einen gemeinsamen Konsens, ein andermal aber wie auch immer begründete Meinungsverschiedenheiten ausdrücken kann. Am Schluss jedes Kapitels steht eine entsprechende Auswahl an Briefen, die sich die Freunde in den letzten Jahren schrieben. Es folgen die Darstellungen des Menschen im jeweils wechselnden Regime, überschrieben als Faktor Mensch, dann in entsprechender Weise des Landes als Objekt Russland. Dabei ist immer wieder interessant, dass für Berschin als echtem Vertreter einer Kultur das Dahinschwinden des eigentlich Immanenten derselben auffällt und wehtut: »Wir machten, zumindest in den großen Städten, den Menschen zum Verbraucher: Er will konsumieren, will gut essen, will trinken, will in einem schönen Haus wohnen, will ein gutes Auto fahren. Das ist ja alles verständlich. Aber was wird sein, wenn alles, was geeignet ist, eine geistige Welt zu entwickeln, dem Menschen nicht mehr wichtig ist? Hier läuft ein rückwärts gerichteter Prozess.« Ehlers führt den Dialog, indem er auf sehr feinsinnige Art immer wieder auf Kernfragen hinführt, westliche Meinungen, Errungenschaften, Traditionen und Vorurteile dezent einfließen lässt und damit die Gedankenführung bereichert.
Im vierten Umgang, der ins Innere des Labyrinths führt – noch einmal an allem vorbei, was wir bisher gesehen haben, jetzt aus Innensicht – entwickelt der Autor die Frage, ob Russland der Restauration entgegenstrebt oder ein »Entwicklungsland« neuen Typs mit Modellcharakter darstellen kann, nicht im Sinn von Rückständigkeit sondern von »Entwicklung« und geistigem Umbruch. So folgen in den weiteren labyrinthischen Umgängen Gespräche über den Menschen in der Krise der Kultur, über ein genaueres in Augenschein nehmen des Westens als möglichem Vorbild bzw. über Russland als Modell der Welt. Die Frage, die sich nach sieben Umgängen im Zentrum des Labyrinths stellt, ist die nach der Entwicklungsdynamik, die aus der russischen Transformation hervorgehen kann. So fügt Ehlers kurzerhand einen achten Umgang hinzu, der Elemente einer neuen Ethik aufzeigen soll und Themen wie die Religion des Konsums einerseits und den Gedanken der Selbstversorgung, des solidarischen Wir-Gefühls auf der anderen Seite behandelt.
Obwohl wir »am Ende […] mit mehr Fragen zurück[kommen], als wir mitgebracht hatten«, lässt ein zum Schluss zitierter Brief den Leser aufhorchen, in welchem Ehlers feststellt, dass die Positionen der beiden Dialogpartner nach den Gesprächen wie ausgetauscht erscheinen: Berschin warnt vor Utopien, während Ehlers, der deutsche Russlandforscher, die Entwicklung Russlands als Offenbarung beschreibt! Vielleicht kann gerade dieses Ergebnis des gegenseitigen Hinhörens und Verstehens als Modell gesehen werden für ein zukünftiges harmonisches Zusammenleben der Kulturen?
Das Buch ist in einem unterhaltsamen Stil verfasst; humorvoll, feinsinnig und voller tiefer Gedanken – eine neue Perspektive, auf die Weltmacht Russland zu blicken!
Kai Ehlers: Russland – Herzschlag einer Weltmacht. 300 S., geb. EUR 24,80. Pforte Verlag, Dornach 2009.