Wem gehört eine Waldorfschule?

Henning Kullak-Ublick

Wir leben in Deutschland schon so lange in der Tradition, dass Schule eine öffentliche Aufgabe ist, dass wir vergessen, dass wir diese Öffentlichkeit selber sind: Seit sich im 18. Jahrhundert der Absolutismus in weiten Teilen Europas verbreitete, betrachtete der Staat das öffentliche Leben als sein Eigentum und damit auch den Anspruch, das Schulwesen zu verwalten.

Im vergangenen Jahrhundert spitzte sich diese Staatsidee bis in die absurdesten Extreme zu. Weltweit entstanden Diktaturen, deren ideologisches Spektrum von dem rassistischen Wahnsinn der Nazis über Stalin, Mao Tse Tung und Pol Pot bis zu dem Personenkult in Nordkorea reichte. Bei aller Unterschiedlichkeit hatten sie eins gemeinsam: Immer ging es darum, Menschen zu funktionierenden Teilen eines Systems zu erziehen. Die Schule war dabei das wirksamste Instrument.

Vor allem in den westlichen Ländern, deren Mehrzahl den Verheißungen des Kapitalismus huldigte, entwickelte sich Schule zu einem Zulieferbetrieb für den Arbeitsmarkt. Die Frage, warum wer was und wann lernen sollte, wurde nicht am Menschen beantwortet, sondern an gesellschaftlichen Notwendigkeiten, die beauftragte Experten als Norm erklärten.

Es gibt aber noch eine weitere Entwicklung, die zunächst im Verborgenen wirkt, jetzt aber immer deutlicher in Erscheinung tritt: die Zivilgesellschaft, die sich anschickt, das öffentliche Leben zurückzuerobern und selbst in die Hand zu nehmen. Sie setzt ein dezentrales, ökologisches und sozial­verträgliches Unternehmertum an die Stelle von staatlichen Monopolen oder ausschließlich gewinn­orientierten Unternehmenszielen.

Auf diesem Feld leisten auch die Waldorfschulen Pionierarbeit: Seit Jahrzehnten erproben sie Wege, wie sich Hunderte von Eltern und Lehrern zu Verantwortungsgemeinschaften zusammenschließen können, bei denen es nicht um persönliche Vorteile, sondern ausschließlich um das Wohl der Kinder geht. Sie vertrauen auf eine Kraft, die stärker ist als jede noch so gut ausgedachte Struktur: Auf die Kraft der Individualität als das konstituierende Element einer Gemeinschaft.

Die wichtigste Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Gemeinschaft ist die Freiheit, denn sie kann nur bestehen, indem ihre Mitglieder sie aktiv entwickeln. Die deutsche Sprache hat dafür das schöne Wort »freiwillig«: Der freie, individuelle Wille von Eltern, Lehrern und Schülern begegnet sich und befähigt sie, ein Ganzes entstehen zu lassen, das nur durch die Initiative seiner einzelnen Mitglieder lebt. Waldorfschule kann nur durch ihre Zusammenarbeit gelingen. Wie schwierig das manchmal ist, wissen wir – und trotzdem will niemand zurück in die Fremdbestimmung.

Die Waldorfschule gehört der Zukunft – so lang sie in Bewegung bleibt!

Henning Kullak-Ublick, seit 1984 Klassenlehrer (zurzeit freigestellt), Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen und bei den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Aktion mündige Schule (www.freie-schule.de)