»Was machen wir?« – Schnell habe ich am letzten Schulfreitag meine Zehntklässler zusammengetrommelt. – »Wir werden unsere anstehende dreiwöchige Deutsch-Epoche nicht wie gewohnt durchführen können.«
»Wir Gamer kriegen das hin!« – Die Jungs aus der letzten Reihe sind voller Know-How, um unsere täglichen Deutschstunden zu retten. Und tatsächlich! Ich glaube es kaum: Da sitze ich als Deutschlehrerin der alten Schule an meinem heimischen Schreibtisch, Laptop vor mir, Headset auf dem Kopf, aufgeregt.
Pünktlich um 9 Uhr morgens höre ich die ersten freudigen Schülerstimmen, fehlende werden von ihren Best Friends wachgeklingelt, so dass wir traditionell mit unserem gemeinsamen Morgenspruch starten können: »…dass Kraft und Segen mir zum Lernen und zu Arbeit in meinem Inneren wachse.« Und es gibt eine ganze Menge zu lernen: Wie komme ich rein? Wie kann ich Dateien hochladen und bearbeiten? ... Didaktisch geschickt erklärt mir Yannic die einzelnen Schritte zum Erstellen eines Tafelbildes. Ich lege den inneren Schwur ab, auch unter diesen Umständen geduldig die Kommaregeln zu erklären.
Die Mädels stimmen für einen reinen Sprachchat. »Bitte ohne Video, dann muss man sich morgens nicht zurechtmachen«, argumentiert Eleni. Wie gewährleisten wir, dass sich keiner gedanklich ausloggt? Lorenz installiert ein Glücksrad mit allen Schülernamen drauf, schicksalhaft bestimmt es den Gewinner, der Fragen zu den vorgetragenen Themen beantworten darf.
Ich erkläre einführend den Siegeszug der Vernunft bei den Dichtern der Aufklärung und bin emotional verunsichert: Wieso ist es so still? Wo sind die Kommentare? Wenigstens ein bisschen Gemurmel? »Ah, Frau Bechtel, wir haben uns auf stumm geschaltet, damit es nicht so raschelt«, schreibt Miriam.
Für die Buchreferate werden die Medien gut genutzt. Jacqueline nimmt ihr gut vorbereitetes Referat über die Faulheit als Audiodatei auf, selbstgedrehte Filme mit animierten Personenkonstellationen werden hochgeladen. Wir stellen uns vor, wie es ist, morgens als Käfer zu erwachen oder die Weltformel gefunden zu haben oder dank eines Parfüms unwiderstehlich zu sein.
Zum Geburtstag von Ronja wird dreißigstimmig »Viel Glück und viel Segen« in die Laptops und Handys hineingesungen. – »Und jetzt noch im Kanon«, lacht Joris. Und die Genesung Lindemanns wird mit dem Rammsteinsong »Engel« gefeiert. Wir wachsen von Woche zu Woche zur verschworenen Schicksalsgemeinschaft zusammen, wollen Liam ob seiner sonoren Stimme zur Karriere als Radiosprecher überreden und hören beim Chatten im Hintergrund Emilys Enten schnattern.
So ist die Welt für uns, nachdem der hyperaktive Hamster aus seinem Rad hinauskatapuliert wurde und uns neue Wege eröffnete.
Zur Autorin: Bettina Bechtel ist Deutschlehrerin an der Freien Waldorfschule Karlsruhe