Wenn die Seele vor dem Leben zurückschreckt

Henning Köhler

Steiner hütete sich vor dem Reflex, alles, was konventionellen Erwartungen widerspricht, auf umweltbedingte oder genetisch verursachte »Dysfunktionen« zurückzuführen. Stattdessen verwies er immer wieder auf vorgeburtliche Ereignisse. Es sei unerlässlich, die Dimension der Un­geborenheit mitzudenken. Nur so könne verständlich werden, was sich im Raum der Kindheit zu verändern begonnen habe.

Diese Veränderungen korrelieren mit den bewusstseinsgeschichtlichen und sozialen Umwälzungen unserer Zeit. Es sind evolutionäre Veränderungen, aber nicht in einem platt evolutionsbiologischen Sinne. Aus anthroposophischer Sicht muss die innige Verwobenheit der Einzelschicksale mit dem Schicksal von Erde und Menschheit als geistige Tatsache beachtet werden.

Nach Steiner kommen die Kinder nicht völlig ahnungslos zur Welt. Sie sind gewissermaßen schon eingestimmt auf das in unserem Kulturraum, ja mehr noch: global vorherrschende geistige und soziale Klima. Kurz: Was auf der Erde geschieht, berührt die zur Inkarnation sich anschickenden Seelen. Es hat Einfluss darauf, mit welcher Grundstimmung sie ihren Lebensweg antreten.

Wenn Steiner vor hundert Jahren einen epochalen Erscheinungswandel der Kindheit ankündigte, muss man sich die von ihm angeführten Gründe vergegenwärtigen, um zu beurteilen, ob und in welchem Maße das damals Gesagte heute noch gilt.

Nervenschwäche und Salutogenese

Um die vorletzte Jahrhundertwende lag es im Trend, über tiefgreifende Veränderungen der anthropologischen Grundbefindlichkeit zu diskutieren. Urbanisierung, Indus­triali­sierung und Technisierung waren große Themen. Man unkte, Beschwerden wie Nervosität und Neurasthenie (Nervenschwäche) würden sich seuchenartig ausbreiten und seien auf die modernen Lebensverhältnisse zurückzuführen, die es dem Menschen immer schwerer machten, seine Mitte zu finden, sich vor identitätsbedrohenden Einflüssen zu schützen. Entfremdung von der Natur, soziale Entwurzelung, Hektik im Alltag, ungesunde Lebensweise und Verschleiß am Arbeitsplatz waren häufig genannte Gründe. Steiner nahm diese Gefahren ernst und gab manchen klugen Ratschlag zur Selbsthilfe zum Beispiel bei nervösen Unruhezuständen oder Ängsten. Er rief eine medizinische Strömung ins Leben, die moderne sozialmedizinische, umweltmedizinische und salutogenetische Konzepte vorweg nahm, betonte den Zusammenhang zwischen individueller Gesundheit und menschengemäßen sozialen Verhältnissen und gehörte gewissermaßen zu den Urvätern der ökologischen Bewegung. Gleichzeitig entbrannte damals ein heftiger Streit über die Pädagogik der Zukunft, in den sich Steiner ebenfalls einmischte.Wie begründete er die Veränderungen im Raum der Kindheit? Eine seiner zentralen Aussagen lautet, immer mehr Kinder verspürten eine gewisse Furcht, in das Leben einzutreten. Schon auf den Gesichtern Neuge­borener sei ein »melancholischer Anflug« zu bemerken.

Ferner hätten viele Heranwachsende mit einer Grund­stimmung des »tiefen Unbefriedigtseins« zu kämpfen, und zwar – wie Steiner hervorhob – auch bei guter Erziehung! Woher rührt das alles? Muss man nur etwas Schlechtes darin sehen?

Die Inflation des Pathologischen

Keine Frage, es gibt Entwicklungserschwernisse, die mit hoher Wahrscheinlichkeit ursächlich auf äußere Einflüsse zurückzuführen sind. Veränderte Sozialisationsbedingungen bleiben nicht ohne Auswirkung. Immer mehr Familien zerbrechen. Immer mehr Erwachsene bewegen sich psychisch am Limit. Wie sollen sie den Kindern Halt bieten? Diese unterliegen zudem immer höheren Leistungsanforderungen und leiden in Ermangelung natürlicher Spiel- und Bewegungsräume unter Defiziten der basalen Sinnesreifung. Das gewöhnliche Schulleben ist ein nicht zu unterschätzender pathogener Faktor. Unkontrollierter Medienkonsum tut ein Übriges. Hinzu kommt die alltägliche Flut ständig wechselnder, starker Eindrücke, denen das Nervensystem buchstäblich nicht »gewachsen« ist. Die Kinder sind gezwungen, sich Schutzmechanismen zuzulegen, um unempfindlicher zu werden. Schlimmstenfalls resultiert daraus eine Abstumpfung der Sensibilität für andere Menschen.

Traurigkeit, Ängstlichkeit, Unbefriedigtheit, verbunden mit Interesselosigkeit,  Aufmerksamkeitsproblemen oder Motivationsschwäche können von alledem herrühren. Zumindest sollte man die genannten Faktoren mit be­denken, wenn Kinder in seelische Not geraten.

Das ist die eine Seite der Medaille. Aber bitte, bleiben wir auf dem Teppich! Es ist nicht alles so schlecht, wie manche behaupten, die mit der Botschaft hausieren gehen, zwei Drittel unserer Kinder seien psychisch defekt und mindestens ebenso viele Eltern pädagogische Versager. Mit Panikmache ist niemandem gedient. In mancher Hinsicht hat sich die Lage der Kinder verbessert. Nie wurde so wenig geprügelt. Nie kümmerten sich, entgegen anderslautenden Gerüchten, so viele Eltern so intensiv um ihre Kinder. Nie genossen Kinder einen vergleichbaren Rechtsschutz.

Und allzu oft führt ein kleinkariertes Verständnis von »regulärer« Entwicklung, gepaart mit der Sucht, Patho­logisches aufzuspüren, dazu, dass jede Mücke zum Elefanten aufgeblasen wird. Der kleine Frechling ist ein narzisstisch gestörtes Tyrannenmonster. Kinder, denen das Rechnen schwer fällt, haben Dyskalkulie. Bei Ängstlichkeit und Schüchternheit stimmt etwas nicht im Gehirn (oder mit der Mutter). Michel aus Lönneberga leidet unter ADHS, Hans-guck-in-die-Luft unter ADS ohne H (wahlweise mit Asperger-Anteilen). Inflationäre Diagnosen zur Etikettierung un­­will­kommener Wesensverfassungen sollten uns skeptisch stimmen. War es nicht Steiners Anliegen, die Dinge etwas tiefer zu betrachten? Etwas wärmer auch?

Die Ursachen liegen tiefer

Auch bei bester Erziehung muss mit den oben erwähnten Erscheinungen (Traurig­keit, Ängstlichkeit, Unzufriedenheit) und allem, was aus ihnen folgt, gerechnet werden. Sie sind oft »mitgebracht« und erklären sich aus einem vorgeburtlichen Grundkonflikt: Den zur Inkarnation sich anschickenden Seelen schlägt etwas Bedrohliches, Bedrückendes entgegen, das zu tun hat mit der spirituellen Leere und sozialen Kälte unserer Zeit.

Daher hängt, so Steiner, unendlich viel davon ab, ob wir als Eltern, Erzieher, Lehrer, Therapeuten durch unsere innere Haltung und unsere Denkungsart etwas radikal Anderes verkörpern. Man könnte dieses Andere als sozialen Wärme-Impuls bezeichnen. Wir sind aufgerufen, gegenüber dem vorherrschenden biologistisch-mechanistischen Menschenbild einen spirituellen Humanismus aufzubieten, der Dostojewskis berühmte Worte bewahrheitet: »Liebe heißt, den anderen so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.« Das ist in Steiners Diktion der »Christus-Impuls«. Man muss kein bekennender Christ sein, um ihn in sich zu tragen.

Wir können uns vorstellen, dass bei immer mehr Kindern der Inkarnationsentschluss kurz vor dem Schwellenübertritt noch einmal ins Wanken gerät. Zaudernde Seelen betreten die Erde, denen das, was in der bestehenden Kultur als »normal« gilt, un-heimlich ist – buchstäblich keine Heimat bietet. Gleichwohl sind sie von dem Willen zur Welt durchwärmt, der sie ja herabgeführt hat. Daraus resultiert eine gewisse Zerrissenheit, die sich sehr unterschiedlich äußern kann.

Was die Kinder mitbringen

Inwiefern sind Kinder heute in besonderem Maße von spirituellen Impulsen durchdrungen? – »Sie spüren den Himmel in sich«, sagte Steiner – und warnte, dass diese Seelenlage ins Destruktive umschlagen kann, wenn niemand da ist, der erfasst, was vorliegt, und entsprechend darauf eingeht. Ich möchte hinzufügen: Oft sind sie fest entschlossen, die Verbindung zum »Himmel« nicht abreißen zu lassen, wollen möglichst lange ganz beim Spielen bleiben, im Reich der Phantasie umherstreifen, märchenhafte Geschichten hören, sich viel draußen in der Natur aufhalten – während ihnen überhaupt nicht einleuchtet, wozu es gut sein soll, das Leben dem Diktat der Uhr, die Sprache und das Denken starren Regelwerken zu unterwerfen. Im Reich der formalen Logik frieren sie. Man darf das nicht ver­allgemeinern –  »Himmelsnähe« und intellektuelle Hochbegabung gehen zuweilen auch Hand in Hand, aber oft tritt ein Widerspruch auf zwischen dem, was die Schule fordert, und dem, wonach das Kind aus Gemütskräften verlangt.

Mit Recht wird oft das starke Einfühlungsvermögen dieser Kinder hervorgehoben, ferner ihre soziale Klugheit, ihr Erfindungsreichtum, ihre Tierliebe, ihre musische Be­gabung. Manche gehen schon früh mit tiefen philosophischen und spirituellen Fragen um. Andere scheinen die Gedanken und Gefühle ihrer Mitmenschen »lesen« zu können; darunter gibt es stille Wasser, scheu und verträumt, aber auch kleine Wirbelwinde, sprudelnd vor Einfällen, stets zu Streichen aufgelegt, berstend vor Bewegungs- und Forscherdrang.

Und bei auffallend vielen unter ihnen zeigt sich eben, ohne erkennbare äußere Veranlassung, eine ängstliche Grundstimmung mit hoher Erschreckbarkeit; oder eine gewisse Schwermut, bei manchen durchgehend spürbar, bei anderen phasenweise; oder eine notorische Unzufriedenheit – als seien sie auf dem falschen Planeten gelandet. Sehr viele  Eltern betonen heute, wie ambivalent sie ihre Kinder erleben: schwankend zwischen Anhänglichkeit und Abwehr, Lebensfreude und Niedergeschlagenheit, Autonomiestreben und Unselbstständigkeit, Angst und Unternehmungslust, Sanftmut und Jähzorn, Frühreife und kleinkindhaftem Gebaren … kurz: zwischen Ja und Nein. Ja zum Leben. Nein zum Leben. Noch nie war diese Unentschiedenheit bei vergleichbar vielen Kindern derartig ausgeprägt.

Lauter Originale

Ach, es gäbe viel zu erzählen über all die kleinen Originale mit ihren, bei Licht betrachtet, so sinnreichen Wider­sprüchen, Einseitigkeiten, Begabungen, Weigerungen! Wollte man nur aufhören, dysfunktionale Wesen in ihnen zu sehen! Genau vor dieser Gesinnung sind sie ja schon an der Schwelle zurückgeschreckt.

Dass es zivilisationsbedingte Belastungen der kindlichen Entwicklung gibt, die früher keine so große Rolle gespielt haben, steht außer Zweifel. Außerdem werden die individuellen Unterschiede zwischen den Kindern immer größer, was uns vor zusätzliche pädagogische Herausforderungen stellt. Schließlich vollziehen sich mit ansteigender Tendenz jene Veränderungen, von denen schon Steiner sprach. Sie werden mangels spiritueller Perspektive noch falsch gedeutet, was zur Folge hat, dass man allzu schnell mit pathologisierenden Zuschreibungen bei der Hand ist.

Daran sollten wir uns anthroposophischerseits nicht beteiligen.

Zum Autor: Henning Köhler, geb. 1951, Heilpädagoge, Gründer des Nürtinger Janusz-Korczak-Instituts (JKI) mit Zweigstellen in Köln und Verona/Italien. Berater der Neuen Schule Zug (Schweiz) und der Kindertagsstätte Amaris (Köln). Ausgedehnte Lehr- und Vortragstätigkeit im In- und Ausland. Zahlreiche Buchpublikationen. Initiator des Studienkreises für Neue Pädagogik.