Wenn es brennt, braucht es schnelle Wege

Dorothee Baumgartner

Der Blick vom Einzelnen auf das Ganze: Fast zwei Jahrzehnte war ich als Förderlehrerin an einer Waldorfschule tätig. Unzählige Kinder und deren Eltern habe ich in dieser Zeit begleitet. Zunehmend zeigte sich die Notwendigkeit, den Blick von der Schule auf das soziale Lebensgefüge des Kindes, das familiäre wie auch das soziale Wohnumfeld zu weiten. Da ist zum Beispiel das Kind, das alleine mit seiner Mutter lebt, ohne weitere Bezugspersonen. Es ist viel alleine zu Hause, da die Mutter arbeitet. Welche sinnvollen Freizeitmöglichkeiten bieten sich ihm, damit es soziale Kontakte einüben und leben kann? Da ist ein anderes Kind, dessen Augen immer trauriger blicken. Sein familiäres Umfeld verändert sich schon wieder und Mutter und Vater wissen nicht mehr, wie sie gemeinsam weiterkommen. Und da ist die Jugendliche, die nicht mehr lernen kann und bei Freunden untergekommen ist, da die Erwachsenen zu Hause ihren Aufgaben nicht mehr gerecht werden können.

In dieser sozial so komplex gewordenen Welt braucht es die Bereitschaft, mit anderen zusammenzuarbeiten und sich von der Einstellung zu verabschieden, dass all die Fragen, die ein Kind aufwirft, die so vielgestaltig geworden sind und in so viele Lebensbereiche hineinwirken, vom Klassenlehrer und Klassenkollegium allein beantwortet werden müssen. Die Lehrer:innen in der Schule haben ihren pädagogischen Auftrag in der Arbeit mit den Klassen. Schulsozialarbeit kennt die Hilfssysteme vor Ort, kümmert sich gemeinsam mit dem Kind, eine Gruppe für seine sinnvolle Freizeitbeschäftigung zu finden, kennt Beratungsstellen für Familien und Paare und begleitet die Jugendlichen auf der Suche nach Wohnperspektiven zu Hause oder anderswo. Wenn es brennt, brauche ich als Schulsozialarbeiterin schnelle Lösungen, auf die ich mich verlassen kann – dafür muss ich sie kennen. Die Kenntnis dieser Wege und die Kontakte müssen gepflegt werden. So entsteht mit der Zeit ein Überblick über die Netzwerke vor Ort, auf die bei Bedarf und je nach individueller Situation zurückgegriffen werden kann. Neben den Hilfen im Einzelfall gilt mein Blick den einzelnen Klassen und der Schule als ganzer. Es geht um die Wahrnehmung von Mobbing, von grenzüberschreitendem Verhalten oder von Drogenkonsum. Durch Einbeziehung der Schulsozialarbeit können präventive oder begleitende unterstützende Angebote initiiert werden. Weil die Schulsozialarbeit die örtlichen Angebote kennt, können in Absprache mit dem Klassenkollegium Veranstaltungen angeregt und organisiert werden. Für die Schüler:innen bedeutet dies, dass sie sich über den Schulzusammenhang hinaus mit der Außenwelt vernetzen. Sie erleben andere Menschen mit anderen, vielleicht ganz neuen Denk- und Lösungsmöglichkeiten. Die Hemmschwelle, bei weiterem Bedarf Hilfe bei örtlichen Beratungsstellen zu suchen, verringert sich, da bereits ein Erstkontakt entstanden ist. In der Schule ist Sozialarbeit einerseits in einer »Außenposition«, bedingt durch die für ihre Arbeit unabdingbare Schweigepflicht. Andererseits ist sie als »Vernetzerin« in der Einzelfallhilfe wie auch in der sozialen Gruppenarbeit und Prävention eine wesentliche Bereicherung des Schullebens durch die Möglichkeit des Zurückgreifens auf ihre Netzwerke.

Den Horizont erweitern

Bis vor wenigen Jahren war die Freie Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld die einzige Waldorfschule in Baden-Württemberg, in der Sozialarbeit aufgebaut wurde. Es war ein mühsamer, steiniger Weg von der erkannten Notwendigkeit hin zur Implementierung einer Stelle. Die Vision, nicht nur für die eigene Schule, sondern für die Waldorfschulbewegung als Ganzes zu arbeiten, ließ trotz mancher Rückschläge Kräfte wachsen. Es brauchte einen langen Atem. Inzwischen konnten wir ein Netzwerk der Waldorfschulsozialarbeiter:innen in Baden-Württemberg und Südbaden aufbauen. Aus dieser Vernetzung entwickelte sich ein starker Gemeinschaftsimpuls, der uns aus der Einzelkämpfer:innenposition an den Schulen herausholt. Das erweitert unseren Horizont, macht mit Arbeits- und Herangehensweisen anderer bekannt, gibt neue Impulse und lässt eingefahrene Standpunkte hinterfragen. Die Schulsozialarbeit an Waldorfschulen in Baden-Württemberg wird größtenteils aus eigenen Schulmitteln finanziert, obwohl die Waldorfschulen dadurch Aufgaben abdecken, die zwischen Jugendhilfe und Schule positioniert sind, es sich also um öffentliche Aufgaben handelt. Die Vernetzung auf Länderebene stärkt das Bewusstsein für die dringende Notwendigkeit dieser Arbeit auch in den Gremien der Waldorfbewegung, wie zum Beispiel der Landesarbeitsgemeinschaften und des Bundes der Freien Waldorfschulen, und bildet die Grundlage, um perspektivisch auch auf politischer Ebene die Forderung finanzieller Bezuschussung einbringen zu können.

Zur Autorin: Dorothee Baumgartner ist Schulsozialarbeiterin an der FWS Freiburg-Rieselfeld, Mitinitiatorin des Netzwerks der Waldorfschulsozialarbeiter:innen Baden-Württemberg und Südbaden. Sie ist Dipl. Sozialarbeiterin, Elternberaterin, systemische Kinder-, Jugend- und Familienberaterin, Waldorfförderlehrerin und Naturpädagogin.

Kontakt: schulsozialarbeit@fws-freiburg-rieselfeld.de