Wenn nichts mehr geht – ein sicherer Ort

Erziehungskunst | Schloss Hamborn ist ein richtiges Dorf in der Nähe von Borchen mit ungefähr 500 »Einwohnern« und vielen unterschiedlichen pädagogischen, therapeutischen und medizinischen Einrichtungen. Welches sind die wichtigsten Bereiche?

Klaus Jacobsen | Hier lebt besonders der biologisch-dynamische Impuls, daneben die medizinisch-therapeutische Arbeit und die Pädagogik. Im Vordergrund steht, dass die Kinder und Jugendlichen einen sicheren Ort für ihren persönlichen Entwicklungsweg finden. Das geschieht oft nach schwierigen Vorerlebnissen. Für diese biographische Unterstützung setzen sich hier Menschen mit ganzer Kraft ein.

EK | Ein Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe. Wie ist dieser Bereich aufgebaut und wie finanziert er sich?

KJ | In diesem Bereich gibt es zwei Arbeitsfelder: die Kinder- und Jugendhilfe Landschulheim sowie die »KompetenzFörderung«. Finanziert werden sie überwiegend durch die jeweils zuständigen Jugendämter.

EK | Woher kommen die Kinder und Jugendlichen und welchen Hilfebedarf haben sie?

KJ | Sie kommen aus ganz Deutschland. Oft führen Krisen im schulischen und familiären Rahmen zu einem Wechsel nach Hamborn. Der Hilfebedarf richtet sich auf die gesamte Persönlichkeit, die entdeckt und entfaltet werden möchte. Eltern oder Jugendämter fragen zum Beispiel bei uns an für Kinder, die schon in den ersten Schuljahren nicht mehr am Unterricht teilnehmen können und eine Veränderung benötigen, oder es wird nach einem Klinikaufenthalt ein neuer Lebens- und Entfaltungsraum notwendig. Nicht zuletzt macht es die Digitalisierung der Lebenswelt erforderlich, dass wir manche schulabsente Jugendliche mit Merkmalen von Computersucht aufnehmen.

EK | Wie gestaltet sich das konkret, wenn Eltern zu Hause oder in der Schule kein Land mehr sehen?

KJ | Sie wenden sich mit einem Beratungswunsch an das für sie zuständige Jugendamt. Ist der Hilfebedarf dort bestätigt worden, haben Eltern ein Mitspracherecht bei der Wahl des zukünftigen Lebens- und Lernortes ihres Kindes. Die Möglichkeit der Mitgestaltung wird leider immer häufiger mit dem Argument beschnitten, dieses oder jenes Angebot sei zu teuer. Das Wunsch- und Wahlrecht ist aber im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankert – auch waldorfpädagogische Angebote können dabei gewählt werden.

EK | Was zeichnet Ihr Angebot besonders aus?

KJ | Das ist vor allem die Bandbreite der Wohnformen, vorwiegend in familienähnlichen Gruppen. Die Mitarbeiter teilen ihr Leben und ihren Alltag mit den Kindern – das ist schon besonders. Alle Mahlzeiten werden gemeinsam eingenommen. Hinzu kommen Intensivgruppen, die im Teamschichtdienst arbeiten, sowie Wohnformen, die eine Verselbstständigung durch den ambulanten Betreuungsdienst »Selbstständig Leben mit Assistenz« unterstützen. Das kann auch in einer eigenen Wohnung im Umkreis von Schloss Hamborn sein.

EK | Wie durchlässig sind die Strukturen zu den anderen Bildungseinrichtungen?

KJ | Es gibt selbstverständlich Kooperationen mit unterschiedlichsten Bildungsträgern in der Region, die gepflegt werden. Auch finden hier regelmäßige überregionale Fachtagungen und Workcamps mit befreundeten Jugendhilfe-Einrichtungen statt.

Die Rudolf-Steiner-Schule in direkter Nachbarschaft ist als eigener Verein eng mit der Kinder- und Jugendhilfe verbunden. In vertrauensvoller Zusammenarbeit, beginnend mit den Aufnahmegesprächen, wird abgespürt, welche Schritte gegangen werden können, denn für einen Teil der Jugendlichen ist Schule erst mal nicht angesagt.

EK | Spielt die Schule also eine untergeordnete Rolle?

KJ | Ja und nein! Schule erzeugt ja anfangs teils negative Assoziationen und gelingt manchmal nur schrittweise, oft erst nach einer Gewöhnungszeit. Fragen bezüglich des schulischen Einstiegs oder einer Einzelbeschulung werden individuell entschieden. An erster Stelle stehen immer die persönlichen Erfolgserlebnisse, etwa bei der Versorgung der Tiere in der pädagogischen Landwirtschaft oder im Reitstall. Die Teilnahme an Betriebsabläufen ermöglicht ein neues Selbst-Erleben, sei es in der Fahrradwerkstatt, dem Forst oder in der Landschaftspflege mit Wildnislernen nach dem Prinzip des »coyote teaching«.

Es gab schon den anfangs nicht möglichen Schulbesuch, über die erfolgreiche Teilnahme im Kleinklassenbereich dann einen Wechsel in die Regel-Waldorfschule bis zum Abitur. Eine Besonderheit ist, dass auch im Kleinklassenbereich ein mittlerer Bildungsabschluss erreicht werden kann und darauf  weitere Schulabschlüsse aufgebaut werden können.

EK | Was ist das Besondere der »KompetenzFörderung«?

KJ | Hier geht es darum, dass die Jugendlichen eigene Neigungen aufspüren, sich praktisch neu erleben, Orientierung finden und ihr Selbstwertgefühl stärken. Die Jugendsozialarbeit ist mit der Förderschule, dem Kleinklassenzweig, in den Klassen 9 bis 12 verzahnt. Hier erweitert sich der schulische Fokus, es wird auf den Anschluss, also die Zeit nach der Schule, vorbereitet. Dafür steht eine große Auswahl an Praxisfeldern für die individuelle sozialpädagogische Begleitung zur Verfügung.

EK | Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Eltern aus?

KJ | Es gibt regelmäßige Elternwochenenden der drei pädagogischen Bereiche Kinder- und Jugendhilfe Landschulheim, »KompetenzFörderung« und Rudolf Steiner Schule, wo man sich austauscht und pädagogische Themen gemeinsam bearbeitet.

Unabhängig davon: Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Eltern und der jeweiligen Wohngruppe ist unverzichtbar.

EK | Welche Begegnungen sind für Sie am eindrücklichsten?

KJ | Da sich mein Arbeitsschwerpunkt zunehmend hin zur Begleitung junger Erwachsener verlagert hat, berühren mich besonders ihre Unbefangenheit und Herzlichkeit. Meine Kolleginnen und Kollegen – als die ich sie bezeichne – hätten heute keine Berufsperspektive in der freien Wirtschaft. Es arbeiten etwa 15 Menschen mittleren Alters in unseren Betrieben und leben hier selbstständig mit Assistenz.

EK | Gab es besondere Einschnitte in der fast drei Jahrzehnte umfassendenTätigkeit als Sozialpädagoge hier?

KJ | Anfang der 1990er Jahre war es noch möglich, bei telefonischen Anfragen mit Überzeugungskraft Kostenzusagen zu erwirken, die dann natürlich vor Ort überprüft oder fortgeschrieben wurden.

Heute, in Zeiten administrativer Überformungen mit detailreichen Handlungsleitlinien und generell formalisierten Abläufen, ist das kaum noch möglich. Zukünftig ist für mich – natürlich neben tragfähigen Konzepten – der persönliche Einsatz für die Belange unserer Klientel in Kombination mit einer Strahlkraft nach außen unverzichtbar. Mein Wunsch ist, unsere langjährigen Erfahrungen mutig in die Begegnungen mit den Vertretern der Ämter einzubringen, zusammen mit der Kraft, den pädagogischen Alltag immer wieder neu zu verlebendigen.

Die Fragen stellte Mathias Maurer.