»Wer bist du – wo kommst du her – wo willst du hin?«

Erziehungskunst | Herr Juul, wie sind sie Familientherapeut geworden?

Jesper Juul | Als Kind habe ich im Wald gewohnt. Ich wollte Förster oder Lehrer werden. Ich entschied mich für den Lehrerberuf. Den Unterricht, die Kinder habe ich sehr geliebt. Aber das normale Schulsystem nicht. Deshalb habe ich begonnen, mit verhaltensauffälligen Kindern als Sozialpädagoge zu arbeiten. Doch mit Kindern kann man nicht arbeiten, wenn man nicht auch mit den Eltern arbeitet. Sind die Kinder verhaltensauffällig in der Schule, gehören sie zu den sogenannten schwierigen Kindern. Dann müssen wir uns also zuerst den Familien zuwenden. Denn diese sind der Grund, auf dem die Kinder stehen. Ohne die Mitarbeit der Familie ist gar nichts möglich. So wurde ich Familientherapeut und habe in den 1970er Jahren in Dänemark das Kempler Institut für Familientherapie gegründet. 2004 kam das »familylab international« dazu.

EK | Familie – was heißt das heute überhaupt?

JJ | Das ist nicht einfach zu beantworten. Eine Familie besteht heute nicht nur aus Vater, Mutter und Kind. Wir haben die Alleinerziehenden, wir haben die Patchworkfamilien, die Kinder haben dann oft mehrere Mütter und Väter, wir haben homosexuelle Paare mit und ohne Kinder, Pflegefamilien, Adoptivfamilien, Familiengemeinschaften. Das alte Familienmodell, auf das wir uns immer noch beziehen, ist eines unter vielen. Die Veränderungen, die damit zusammenhängen, sind gewaltig und die Unsicherheit der Eltern ist groß. Weder sie, noch ihre Kinder wissen, was eine Familie ist, was eine Familie sein könnte, da sie das Grundlegende nicht mehr kennen: einen Zusammenhang mit ihren Kindern zu bilden. Das klingt banal, ist aber entscheidend.

Grundlegend für eine Familie ist, dass sie eine auf Liebe fußende Gemeinschaft ist und Werte als Wegweiser besitzt. Dazu gehören Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung, vor allem Verantwortung der Erwachsenen.

EK | Waren denn die Eltern früher sicherer und die Kinder nicht so schwierig?

JJ | Nein, ich denke nicht. Die Eltern waren stets unsicher. Nur heute wird diese Unsicherheit mit bewundernswerter Offenheit formuliert – vor sich selbst und vor anderen. Für die Generation meiner Eltern wurde das Wissen um das »richtige« Verhalten gar nicht in Frage gestellt und dadurch abgesichert, dass alle das so machen. Doch wenn heute per SMS schnell einmal abgefragt werden kann, ob denn wirklich alle das so machen, dann werden die Eltern mit ihrem sowieso schon unsicheren »das macht man nicht« schnell entkräftet. Und dann sollen die Kinder nicht schwierig sein? Aber es gab auch klare Wertvorstellungen, gestützt von den Parteien, den Kirchen. Heute gibt es das nicht mehr. Heute scheinen ausschließlich die Regeln des Marktes zu interessieren. Und diese sind denkbar schlecht als Wertgrundlage für eine Familie geeignet.

EK | Was bedeutet es für die Kinder, in einer Welt leben zu müssen, die von Marktgesetzen beherrscht wird?

JJ | Kinder sind in beunruhigendem Maße zur Handelsware reduziert worden. Heute kann man Kinder bekommen, auch wenn es physisch praktisch unmöglich ist. Wir können bald über Augenfarbe, IQ, Körpergröße und Geschlecht mitbestimmen. Adoptivkinder werden zurückgegeben, wenn sie dem Selbstbild der Familie nicht entsprechen. Kinder sollen funktionstüchtig sein und maßgenau in unser Weltbild passen. Dazu gehört dann auch die ganze frühkindliche Bildung und Erziehung, die auf das perfekte Kind zielt.

EK | Sie haben einmal geäußert, dass die Kinder sich am besten entwickeln könnten, wenn wir sie fragen: Wer bist du? Wo kommst du her? Wo willst du hin?

JJ | Ja. Das kann man Kinder fragen. Allerdings gibt es auch Kinder, bei denen das nicht möglich ist. Gestern war ich den ganzen Tag in einem Pestalozzi-Kinderdorf und es war eine ausgezeichnete Stimmung. Aber auch dort waren alle auf das Verhalten der Kinder fokussiert. Ein Beispiel: »Wir haben hier einen Jungen, der bei uns ein Jahr war, und er klaut.« »Er klaut Geld?« »Was machen wir? Wir müssen mit ihm reden«. »Aber bitte nicht übers Klauen. Er ist neun Jahre alt und er weiß genau, dass man nicht klauen soll.« »Aber, was sollen wir machen?« »Ihr müsst ihn kennenlernen.« »Wir haben ihn doch ein Jahr lang kennen gelernt.« – Nein, das hatten sie nicht. Sie hatten seine Akten gelesen. Diese Akten haben fünfzehn Erwachsene gelesen. Diese haben sich ein Bild von ihm gemacht. Aber der Junge wurde nie gefragt: Wer bist du eigentlich? Was denkst du? Was möchtest du gerne? Wovon träumst du? Was sind deine Ziele? Wie geht es dir hier bei uns? Erst wenn solche Fragen gestellt werden, wenn das Kind Respekt und Würde zurückerhält, merkt, dass es geachtet wird und nicht beobachtet, kann auch gegen das Klauen ein Weg gefunden werden.

EK | Solche Fragen kann man erst ab einem gewissen Alter stellen. Sie können kein dreijähriges Kind fragen, das sich chaotisch verhält: Wer bist du?

JJ | Ich weiß, dass ein Dreijähriger mir die Frage nicht beantworten kann. Ich weiß aber, dass ein Dreijähriger mir zuhört und durch mein Verhalten merkt, dass ich an ihm interessiert bin. Es gibt einen Menschen hier, der weiß, er ist mir wichtig. Das ist sozusagen die innere Frage und Einstellung dazu. Das Kind spürt dieses Verhalten genau.

EK | Was sind Ihrer Erfahrung nach die größten Erziehungsfehler?

JJ | Zur Zeit wird das Kind in allen Bereichen übererzogen. Das zweite Problem ist, dass man mit dem Zuviel an Er-ziehung die Kompetenz von Kindern und ihre Intention in Frage stellt. Goethe hat so schön gesagt: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Das sind die Erwachsenen, die fortwährend von den Kindern etwas wollen, sie mit ihren Vorstellungen eingrenzen und einengen. Und die Kinder merken intuitiv, was die eigentliche Botschaft ist: Wir vertrauen dir nicht. Ohne uns kannst du kein anständiger Mensch werden. Es gibt aber auch Eltern, die haben Angst, ihre Kinder zu stark zu beeinflussen. Ich nenne sie Neoromantiker. Das Kind steht dann alleine in der Welt und es hat keine Führung. Einen Mittelweg zwischen den beiden Extremen zu finden, ist oft schwierig.

Ein Beispiel: Mein Enkel war zwei Tage bei mir und wir hatten eine alte Auseinandersetzung beim Zähneputzen. »Das will ich nicht, das brauche ich nicht«, hat er gesagt. Da habe ich gesagt: »Hör zu, innerhalb der nächsten Stunde musst du schlafen gehen und ich will nicht mehr über das Thema mit dem Zähneputzen reden. – Wer entscheidet, wer bestimmt zu Hause?« »Meine Mutter«, sagt er. »Und wer bestimmt hier?« »Du«. Damit schien die Sache erledigt. Doch er setzte nach: »Aber ich mag es nicht.« »Ja, das ist dein gutes Recht.« Es ist völlig in Ordnung, wenn er sagt, dass er etwas nicht mag. Aber für die meisten Eltern ist das nicht in Ordnung. Denn sie wollen eigentlich nicht nur geliebt werden, sondern auch Recht haben. Das ist furchtbar.

EK | Was könnte jungen Eltern mit Kindern als Orientierung mitgegeben werden?

JJ | Kinder wollen es den Erwachsenen Recht machen, aber es dauert ein bisschen länger, als wir es wollen. Wenn wir sagen: »Jetzt machst du das, was ich sage, und zwar sofort«. Dieses »Sofort« ist falsch. Das Kind kann nicht mehr ja sagen, sondern nur noch »jawoll!« und verliert seine Würde. Man muss den Kindern Zeit lassen. Es ist wie beim Zähneputzen: Wenn ich diesen kindlichen Widerstand persönlich nehme, versinkt alles im Chaos. Nichts mehr funktioniert. Kinder müssen freigesetzt werden. Sie spüren blitzschnell: Bekomme ich von diesem Erwachsenen Respekt oder nicht? Und sie wollen Respekt. Kann ich hier sein, so wie ich bin? Ist es erlaubt, nein zu sagen? Und wenn das erlaubt ist, dann sage ich gerne ja.

EK | Kinder brauchen Zeit – was brauchen sie nicht?

JJ | Wir sollten in den Schulen, Kindergärten und Familienhäusern ein Wort nicht benutzen, das heißt Motivation. Motivation brauchen die Kinder nicht. Die Kinder sind von sich aus hoch motiviert. Wir brauchen die Kinder nicht zu stimulieren in ihrer körperlichen und motorischen Entwicklung. Das schaffen die Kinder ganz allein, wenn sie dazu bereit sind. So ist es mit dem Körper, so ist es mit der Seele. Es kommt, wenn es kommt. Wir müssen warten können.

Die Fragen stellten Ariane Eichenberg und Mathias Maurer

Buchtipp: Jesper Juul / Peter Høeg u.a.: Miteinander. Wie Empathie Kinder stark macht, 144 S., Euro 14,95, Beltz Verlag 2011. – Die Stärkung des Mitgefühls als Voraussetzung für eine friedliche Welt. Ein großes Plädoyer der beiden bekannten Autoren für das, was unsere Welt zusammenhält.