Wer braucht keine Eurythmie?

Erziehungskunst | Herr Koob, warum ist das Fach »Eurythmie« wichtig?

Olaf Koob | Es gibt heute in der Wissenschaft den Begriff der »Verwahrlosung« der biologischen Rhythmen. Diese hat Folgen für die menschliche Gesundheit, für Herz, Kreislauf, Wachen, Schlafen und Verdauung. Jede Form von rhythmischer Bewegung hat einen günstigen Einfluss auf die innerleiblichen Bewegungen.

EK | Frau Böken, warum mögen Schüler dieses Fach nicht immer?

Noemi Böken | Weil oft die Brücke zum alltäglichen Leben fehlt. Diese Brücke, die der Lehrer bilden muss, ist nicht immer einfach zu finden, es sei denn, man hat die Grundlagen der Eurythmie so verinnerlicht, dass man in fast jeder Übung einen direkten Alltagsbezug findet. Bei den jüngeren Kindern spricht man nicht unbedingt darüber, aber sie sollte Realität sein, so dass das Kind diese Verbindung durch den Eurythmielehrer wahrnimmt. Mit den älteren Schülern muss man immer wieder darüber reflektieren. Schön ist es, wenn man eine 11. oder 12. Klasse hat, die bereit ist, Fragen an die Eurythmie zu stellen und im aktiven Tun in eine Art individuelle Zwiesprache mit ihr zu treten.

Beatrix Hachtel | Die Schwierigkeiten entstehen überwiegend in der Mittelstufe. Die Schüler erleben in diesem Alter, in dem alles im Umbau ist, manche Bewegungen als intim. Sie wollen jetzt wissen: Was ist das? Warum machen wir das? Darauf muss der Unterricht eingehen. Wenn es nicht gelingt, ein Erlebnis davon zu vermitteln, was man konkret an den Übungen lernt, ist es »sinnloses Gehampel«. Das größte Handicap ist aber: Tun kostet Überwindung. Und seinen Willen in den Griff bekommen fällt schwer. Nur: Keine bewusst geführte Bewegung – und das sind eben die eurythmischen Bewegungen – ist möglich, ohne Kontrolle und Führung des Willens.

EK | Frau Hachtel, warum bieten Waldorfschulen Heileurythmie an?

BH | Zur Waldorfschule gehört seit jeher ein Förderbereich. Früher ging es dabei vor allem darum, prophylaktisch tätig zu sein und konstitutionelle Schwächen zu behandeln. Dazu gehörten ständige Blässe, Haltungsschwierigkeiten, Schlafstörungen, Trägheit oder Überaktivität. Heute beschäftigen uns vorwiegend »neue« Krankheiten wie AD(H)S oder Legasthenie. Aber zum Beispiel auch bei Zahnfehlstellungen kann mit Heileurythmie schneller behandelt werden als mit konventionell kieferorthopädischen Methoden.

EK | Worin unterscheiden sich pädagogische und Heileurythmie?

BH | Eurythmie ist Kunst, Heileurythmie Therapie. Für das äußere Auge können die Grenzen gelegentlich verschwimmen, ein wesentlicher Unterschied ist aber: In der Eurythmie bin ich expressiv und drücke aus, was ich empfinde – was in Musik oder Sprache lebt. Und ich nehme dabei die anderen wahr. Bei der Heileurythmie richte ich mich nach innen: Was macht die Lautbewegung mit mir? Das geht nur mich selber an. Die Übungen werden modifiziert und dadurch verstärkt. Die Wirkung ist auf mich selber gerichtet. Dass die Übungen wirken, merkt man relativ schnell.

OK | Es hat mich schon in meiner Studienzeit ein Werk des Sportphysiologen Carl Diem, »Körpererziehung bei Goethe«, begeistert, wo er beschreibt, wie viele Sportarten Goethe praktizierte: Tanzen, Klettern, Fechten, Schlittschuhlaufen, Bergsteigen, Höhlenbesteigung … – aber immer auch gleichzeitig mit der Beobachtung der Veränderung seines Seelenlebens. Die hygienische Eurythmie und die künstlerische Eurythmie sind Künste, die das Seelische des Menschen wieder mit der bewegenden Leiblichkeit vereinigen und somit bis in die Gemütsstimmungen eine vitalisierende Wirkung auf das Seelenleben haben. In Sprache und Gesang leben harmonische Kräfte, die, wenn sie sichtbar werden, schon den Zuschauer ausgeglichener machen können.

EK | Bewegung fördert die Synapsenbildung im Gehirn. Warum hat Eurythmie da einen besonderen Stellenwert?

OK | Die harmonische Verbindung von Nerven-Sinnestätigkeit und Bewegung, wie wir sie beim Tanzen, aber auch Wandern haben, ist heute durch die Lebensgewohnheiten unterbrochen. Diese Tatsache nennt man nach dem Arzt und Psychiater Viktor von Weizsäcker »Gestaltkreis«. Dieser Gestaltkreis existiert nicht mehr beim Autofahren oder Fernsehen, weil die Sinnestätigkeit zuungunsten der Bewegung vereinseitigt ist. Umgekehrt ist bei einer Bewegung ohne Sinnestätigkeit, wo es nur ums Laufen geht wie beim Joggen, der Bewegungspol überstrapaziert im Vergleich zum Wahrnehmen. Dazu gehört auch das Bodybuilding, wo es nur um Muskelbetätigung geht.

Die Synthese von Wahrnehmen und Bewegen wird heute immer mehr vernachlässigt, und eine regelrechte Abkoppelung des Seelischen von der Bewegung findet statt. Man könnte es auch Mechanisierung nennen, die zu Versteifung und Verhärtung der Muskulatur führt und sogar zu seelischen Problemen. Wir kennen heute den Einfluss der Bewegung auf die Bildung des Gehirns. In der Sprache der Wissenschaft nennt sich das »Psychomotorik«. Je geschickter das kleine Kind seine Gliedmaßen bewegen lernt, desto besser bilden sich parallel dazu im Gehirn die Nerven­verbindungen aus, die wiederum das Denken und die Bewegungen kontrollieren und geschickt machen.

EK | Frau Böken, sind Eurythmisten gesünder?

NB | Eurythmisten sind nicht unbedingt gesünder, aber sie sind empfindsamer, und dadurch kommen Krankheiten, wenn sie veranlagt sind, stärker zum Vorschein.

BH | Ein amerikanischer Forscher wollte in einer Studie nachweisen, dass die Eurythmisten, weil sie ja mit einem belebenden Beruf umgehen, älter werden. Er verglich die Lebensdauer von etwa hundert Anthroposophen mit hundert Eurythmisten und Heileurythmisten. Das Ergebnis war bedrückend und wirft eher ein Licht auf die Frage, warum das Deputat der Eurythmisten an Waldorfschulen geringer ist als das der übrigen Lehrer: Eurythmisten und Heileurythmisten leben deutlich, 10-15 Prozent, kürzer als die normalen Anthroposophen. Die wenigen Eurythmisten, die sehr alt geworden sind, arbeiteten überwiegend in der Erwachsenenbildung, hatten Lebenspartner oder Förderer, hatten jedenfalls keine chronischen finanziellen Sorgen. Fast jeder Eurythmist, der auch schon andere Tätigkeiten ausgeübt oder ein anderes Fach unterrichtet hat, kann davon berichten: Nichts schlaucht so, wie Eurythmie an der Schule zu unterrichten.

EK | Frau Böken, Sie sind im asiatischen Raum als Eurythmistin tätig. Was haben chinesische Manager oder Gefangene in Bangkok von der Eurythmie?

NB | Seit über sieben Jahren arbeite ich dort. So kam es, dass ich in einem Jugendgefängnis oder mit Lehrern einer der größten Eliteschulen in Thailand arbeitete. In letzter Zeit jedoch arbeite ich mehr und mehr mit Managern sowohl in Thailand als auch in China. Asiaten denken sehr bildhaft, und die Eurythmie ist eine Bildsprache. In Asien muss ich einem asiatischen Manager die Eurythmie nicht erklären. Jede Übung spricht für sich. So bekam ich einmal den Auftrag, Führungskräfte zu schulen unter dem Thema »Führen und geführt werden«. Sie hatten erstaunliche Erkenntnisse, die sie direkt in ihrer täglichen Arbeit umsetzen konnten.

EK | In diesem Jahr feiert die Eurythmie ihren hundertsten Geburtstag. Was tragen Sie dazu bei?

BH | Unser gemeinsamer Impuls ist, die Eurythmie insgesamt bekannter zu machen, weil wir von ihrer Wirkung – sei es in sozialen Zusammenhängen, in der Pädagogik oder der Therapie – tagtäglich überzeugt und begeistert werden. Dazu ist aber auch eine ganze Menge Aufklärungsarbeit vonnöten. Wir sind ein Berufsstand von Künstlern, nicht von Schriftstellern. Man hat in der Vergangenheit auch viel von der Außendarstellung den Schülern überlassen, auch weil man Fotos und Filmen gegenüber immer noch sehr konservativ eingestellt ist. Die Folge davon ist, dass Youtube voll mit schrottigen Handyvideos ungefragter Mitschnitte aus dem Unterricht ist. Eurythmie wird lächerlich gemacht. Dessen wollen wir uns jetzt annehmen. Mit dem Projekt »Warum machen wir Eurythmie?«, das in Zusammenarbeit mit dem Bund der Freien Waldorfschulen entwickelt wurde, möchten wir einen neuen Schritt in die Öffentlichkeit gehen und dieses Fach ins rechte Licht zu rücken.

NB | Aufklärungsarbeit nicht im Sinne einer missionarischen Arbeit, das wurde schon zu oft versucht, sondern im Sinne eines Selber-Erfahrens der Eurythmie. Es ist phantastisch zu beobachten, was im Zwischenmenschlichen passiert, wenn Menschen miteinander Eurythmie machen. Mit etwas Geschick kann man Sozialprozesse in Gang setzen und somit die Sozialkompetenz üben.

BH | Heute wissen wir, dass die Eurythmie weit mehr ist als eine Kunst: Sie ist ein Wandlungshelfer, der in nahezu jeder Situation, überall im Leben, eingesetzt werden kann, um positive Entwicklungen anzuregen. Wir wünschen uns, dass dieses Potenzial wiederentdeckt wird, denn es gibt Not und Bedarf, wo immer man hinschaut.

Literatur:

Earl J. Ogletree, Horst Tappe: Die Wirkung von Eurythmie auf die Lebensdauer von Eurythmisten: eine Studie. Rundbrief für die Mitarbeiter der Medizinischen Sektion am Goetheanum, Nr. 37, Michaeli 1999; Beatrix Hachtel, Angelika Gäch: Bibliographie Heileurythmie. NMM-Verlag, Eckwälden 2007

Hinweis

Video-Clips zur Eurythmie finden Sie auf youtube