Furcht, Ehrgeiz und Liebe im Klassenzimmer

Martin Carle

Relativ rasch musste ich erfahren, dass die Umsetzung dieses Ideals gar nicht so einfach war. Die unterschiedlichsten Dynamiken und Problematiken in meiner Klasse provozierten manchen Rückfall in die von mir so verachtete »schwarze« Pädagogik.

Da konnte ich mich abends noch so bemühen, an ein bestimmtes Kind positiv und liebevoll zu denken und für es eigens eine sinnig-moralische Geschichte zu erfinden, die ich der Klasse am nächsten Tag erzählte. Wenn es dann doch wieder in der Pause ein anderes Kind schlug oder sich mitten im Unterricht tobend dagegen wehrte, im Kreis wie ein Pferdchen zu traben oder still wie ein Mäuschen an den Platz zu huschen, dann fiel mir nichts anderes ein, als es vor die Tür zu schicken oder ein Elterngespräch anzuberaumen.

Besser wurde es erst, als ich entdeckte, dass das Kind mit weit oberhalb des allgemeinen Klassenniveaus angesiedelten Rechenaufgaben relativ leicht zu befrieden war. Sobald ich nun mit meinen Aufgabenblättern raschelte, lief bei ihm offensichtlich ein bestimmtes Reaktions-Muster ab, das es lammfromm in seiner Bank Aufgabe um Aufgabe rechnen ließ.

Nachdem dieses Kind erfolgreich »konditioniert« war, wandte ich mich den anderen »Baustellen« in meiner Klasse zu und mein weltverändernder pädagogischer Impuls schnurrte relativ schnell auf das Bestreben zusammen, zunächst einmal Ruhe, Disziplin und Aufmerksamkeit im Klassenzimmer herzustellen. Dazu waren zunächst einmal fast alle Mittel der klassischen und operanten Konditionierung (siehe Erläuterungen 1 und 2) recht.

Bei meinen Kollegen und Kolleginnen versuchte ich ebenfalls, mir erfolgversprechende Handlungsmöglichkeiten abzuschauen. Zwei Optionen stachen dabei ins Auge: Klassenführung mittels »Regeln, Rhythmen und Ritualen« oder Klassenführung mittels »Creativität, Chaos und Charisma«.

Durch konsequent-autoritäres Einsetzen der drei R’s wurde die Klasse fest in den Griff genommen, schulische Leistungen und gesittetes Verhalten der Kinder waren zunächst beeindruckend. Die Kinder warteten immer ruhig und brav händchenhaltend in Zweierreihen vor der noch geschlossenen Klassenzimmertür. Dummerweise erwiesen sie sich in der Mittelstufe häufig als undankbares Klientel, indem sie mit allen Mitteln versuchten, den Klassenlehrer vorzeitig loszuwerden.

Demgegenüber wirkte der Einsatz der drei C’s nach außen hin spektakulärer, hier erzeugte die faszinierende Lehrerpersönlichkeit viele kleine Individualisten, die häufig von Rechtschreibregeln oder anderen Konventionen unbeeindruckt waren. In der Warteschlange vor der Klassenzimmertür war es allerdings sehr anstrengend mit ihnen und auch sie schienen häufig am Ende der Klassenlehrerzeit dieser erdrückenden Überwältigungsstrategie eher überdrüssig.

So musste ich leider feststellen, dass in beiden Varianten neben dem unzweifelhaft hohen Quantum an vorhandenen Liebeskräften doch auch ein gehöriger Anteil der anfangs erwähnten beiden ersten Erziehungsmittel steckte und ich mir einen eigenen Weg suchen musste.

Das Beste herausholen?

In den folgenden Jahren versuchte ich also, durch eine situativ angepasste Mischung aus positiv und negativ konditionierenden Verstärkungen das jeweils Beste aus beiden beobachteten Optionen anzuwenden. Wenn es sein musste, konnte ich jetzt auch Strafen (pardon, Konsequenzen) aussprechen und ich verwendete das Loben als leistungs­steigernde Stimulanz – auch da, wo es eigentlich nicht hingehörte.

Gemeinsam mit der mir möglichen Portion Liebe gelang es so zunehmend, die Klasse zu einem gewissen Wohl- und Lernverhalten zu bewegen. Aus der anfangs wilden und turbulenten Rasselbande wurde schließlich dann doch noch eine recht gesittete Schulklasse, die selbst in ihrer pubertären Frühphase mit 13, 14 Jahren ihre Lektion fürs Leben gelernt zu haben schien und insgesamt »gute bis sehr gute Leistungen erbrachte«. Trotz dieses »Erfolges« hatte mich die Erinnerung an mein pädagogisches Ideal noch nicht ganz verlassen und so nahm ich mir vor, bei meinem zweiten Durchgang etwas strenger mit mir selbst, statt mit den Kindern zu sein und mir noch einmal die menschenkundlichen Grundlagen der Waldorfpädagogik zu Gemüte zu führen.

Von der Sympathie zur Antipathie

Im ersten Lebensjahrsiebt, ob zuhause oder in Kinderkrippe und Kindergarten, ist der pädagogische Erfolg maßgeblich davon abhängig, dass die Kinder warmherzige und möglichst vielfältig tätige Vorbilder nachahmen dürfen. Im dritten Jahrsiebt, nach der Pubertät, besteht das pädagogische Ziel darin, dass die Jugendlichen so frei wie möglich von äußeren Einflüssen werden und lernen, sich durch eigene Einsicht und Urteilsfähigkeit selbst zu führen. Sie sollten außerdem begründen können, warum sie etwas tun oder unterlassen.

In der Zwischenzeit, im zweiten Jahrsiebt, während der Klassenlehrerzeit, befinden sich die Heranwachsenden in einer Art Übergangsstadium zwischen oben genannten Entwicklungsprozessen (siehe Erläuterung 3). Auf der einen Seite erlahmen die Nachahmungskräfte, auf der anderen Seite sind eigene Urteilsfähigkeiten noch kaum vorhanden. Immer wichtiger werden nun für den gelingenden pädagogischen Prozess Sympathie- und Antipathiekräfte des Schülers den erwachsenen Erziehern und dem Unterrichtsinhalt gegenüber. Durch die Art unserer Beziehung zu ihnen entscheiden wir immer stärker darüber, ob sie weiterhin in hohem Maße lernmotiviert bleiben.

Als Klassenlehrer war ich also gefordert, den Übergang vom nachlassenden Nachahmen zur zunehmenden eigenen Urteilstätigkeit über ihre Sympathie- und Antipathiekräfte anzuregen und möglichst vielfältig zu gestalten.

Auf der Beziehungsebene bedeutete dies, dass die Kinder mir in der ersten Klasse möglichst uneingeschränkte Sympathie entgegenbringen sollten und dass es andererseits nicht schlimm war, wenn sie am Ende der 8. Klasse eine gewisse Antipathie gegen mich empfanden und sich von mir als Funktionsträger (Lehrer) und Person (mit all ihren Macken) distanzieren konnten. Ich musste es lieben lernen, manchen Schülern als provokante »Tischkante« zu dienen, an der sie sich stoßen und reiben konnten.

Auf der sachlichen Ebene bedeutete dies, dass die Kinder den jeweils neuen Unterrichtsstoff zunächst einmal interessant-sympathisch finden mussten, damit sie sich seelisch mit ihm verbinden konnten. Unmittelbar darauf wurde es aber auch immer wichtiger, dass sie ihm bewusst-antipathisch entgegentreten, ihn wie von außen beobachten, beschreiben und dann begreifen konnten. Hierzu war es für mich hilfreich, den von Steiner beschriebenen methodischen Dreischritt (siehe Erläuterung 4) noch einmal etwas intensiver zu studieren und diesmal wesentlich phantasievoller und künstlerischer anzuwenden, als ich dies auf dem Lehrerseminar gelernt und in meinem ersten Durchgang praktiziert hatte.

Methodisch-didaktischen Ausdruck fand dies im Unterrichtsgeschehen in einer sinnvollen und abwechslungsreichen Mischung aus Frontalunterricht und sogenannten offenen Unterrichtsformen oder – anders ausgedrückt – aus dem Wechsel zwischen lehrer- und schülerzentriertem Unterricht.

Die jungen Menschen pendelten so schon rein äußerlich zwischen den beiden Polen von Ein- und Ausatmen oder Ruhe und Bewegung. Auch innerlich vollzogen sie den Wechsel zwischen Kopf- und Gliedmaßentätigkeit, zwischen Anspannen und Lösen mit.

Konditionierung und Freiräume lassen schließen sich nicht aus

In der Praxis versuchte ich, die notwendige »Konditionierung« der Heranwachsenden vor allem darauf zu beschränken, dass sie lernten, in welchen Sozialformen und mit welchen Methoden sich gut und effizient lernen ließ. Es war für alle Beteiligten befriedigend, wenn ich den neuen Unterrichtsstoff vorne an der Tafel oder auch im Bankkreis sitzend mittels einer Geschichte oder eines Experimentes einführte und sie dabei aufmerksam zuhören oder zuschauen konnten. Dies taten sie umso motivierter und konzentrierter, als sie wussten, dass dies nie sehr lange dauerte und sie danach wieder viel Freiraum bekamen, sich in offenen und interaktiven Unterrichtsformen den neuen Stoff möglichst spielerisch anzueignen.

Am Ende des Unterrichts oder des Tages kamen wir dann wieder zusammen und konnten uns die Arbeitsprodukte zeigen, uns über das Gelernte austauschen und an den entstandenen Erkenntnissen freuen. Im Ergebnis zeigte sich, dass die Schüler den entstehenden Freiraum auch vermehrt dazu nutzten, eigenständige Ideen oder Gedanken zu äußern und umzusetzen, zum Beispiel beim Beschreiten individueller Rechenwege, beim Vorbereiten von Einzel- oder Gruppenreferaten oder beim Einstudieren von Theaterprojekten.

Idealerweise wird Unterricht so von einem stetigen Wechsel von Konditionierungs- und Freiheitselementen durchzogen. Mit Schiller könnte man auch sagen, dass es Aufgabe des Lehrers ist, den bei heranwachsenden Menschen immanent wirkenden Stoff- und Formtrieben immer wieder zu ermöglichen sich »in Freiheit« im harmonisierenden Spieltrieb (siehe Erläuterung 5) weiterzuentwickeln.

Es wäre sicherlich eine große Selbsttäuschung, behaupten zu wollen, ich hätte mit diesen kleinen Veränderungen Furcht und Ehrgeiz ganz aus meinem Klassenzimmer verbannt. Immer wieder ertappe ich mich bei peinlichen Rückfällen und merke, wie schwer es auch noch heute ist, sich Steiners Ideal anzunähern.

Erläuterungen:

(1) Als klassisches Konditionieren bezeichnet man das Verbinden von verschiedenen Reizen. So können zum Beispiel Geräusche mit bestimmten Gefühlen verbunden werden. Das Klingeln der Pausenglocke einer Schule kann mit Freude verbunden sein, wie auch mit Angst oder Unbehagen. Dies hängt davon ab, welche Erfahrungen damit gemacht wurden.

(2) Als operantes Konditionieren bezeichnet man eine Änderung des Verhaltens durch Belohnung oder Bestrafung. Man spricht dabei auch von positiven oder negativen Verstärkern. Wird ein Verhalten belohnt, so tritt es häufiger auf. Wird ein Verhalten bestraft, so kommt es seltener vor. Wird ein Schüler für pünktliches Erscheinen gelobt, kommt er häufiger pünktlich. Wird er für sein Zuspätkommen bestraft, möglicherweise auch. In der Praxis zeigt sich, dass positive Verstärker wirksamer sind und eher zum Ziel führen.

(3) So weit der klassische Ansatz der anthroposophischen Menschenkunde. Es lässt sich heutzutage aber vielfach beobachten, dass die Nachahmungskräfte bei vielen Kindern schon vor Beginn des 2. Jahrsiebtes stark nachlassen und andererseits die (rein intellektuelle) Urteilsfähigkeit zeitlich nach vorne verlagert. Der Umgang damit und die daraus resultierenden pädagogischen Konsequenzen für das Unterrichten an heutigen Waldorfschulen sind ein Thema für sich.

(4) Der methodische Dreischritt wird von Steiner im 9. Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde beschrieben. Siehe auch »Der Methodische Dreischritt in der Unterrichtspraxis der Waldorfpädagogik« von M. Carle unter www.lernenistbewegung.weebly.com.

(5) Für Schiller ist der Spieltrieb Ausdruck der freien Vermittlung zwischen Stofftrieb (Leben, Körper, Natur) und Formtrieb (Vernunft, Geist, Gesetz), die beide im Spiel zu ihrem Recht kommen und sich gemäß ihrer Eigenart entfalten können.

Zum Autor: Martin Carle arbeitete viele Jahre als Klassen- und Oberstufenlehrer sowie als Pädagogischer Schulleiter und Vorstand an deutschen und Schweizer Waldorfschulen. Er gibt Fort-bildungen u.a. für Klassenlehrer, zum »Lernen in Bewegung« und zum »Methodischen Dreischritt«. Zur Zeit unterrichtet er an einer Primarschule im Kanton Bern, Schweiz.

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