Eine dieser Lebensimprovisationen führte meine Frau und mich zum Bewerbungsgespräch an die Freie Waldorfschule Magdeburg. Drei Klassenlehrerstellen waren dort vakant. Für meine Frau war die Sache recht eindeutig, eine erste Klasse musste es schon sein. Für mich, der bisher an einer Schule gearbeitet hatte, in der Klassen nur noch bis zur sechsten Stufe vom Klassenlehrer geführt wurden und der als Epochen- und Musiklehrer bisher hauptsächlich in der Mittelstufe tätig war, schien die ausgeschriebene Klassenlehrerstelle der 5. Klasse reizvoller. Es war eine Quereinsteigerklasse, die in mir so manche Frage wachrief. Wie fühlt es sich an, Schülern mit derlei schulischer Vorerfahrung auf einmal mit waldorfpädagogischen Grundgesten zu begegnen? Wie reagieren wohl diese Kinder auf eine Schule, in der das innere Bild gefragt ist und in der auf die projizierten Bilder elektrischer Tafeln bewusst verzichtet wird? Wie mag es ihnen wohl vorkommen, wenn sich die innere Werteskala verschiebt und sie erkennen, wie lange und innig sich ein Phänomen betrachten lässt? Welcher gestandenen Lehrerpersönlichkeit bedarf es, um einen derlei großen schulischen Weltenwechsel herbeizuführen? Wer wird für eine solche Aufgabe gesucht?
Ich entschied mich dennoch dafür, mich als Erstklasslehrer zu bewerben denn ich befürchtete, man benötige für das Führen einer fünften Klasse, zumal für eine Quereinsteigerklasse den berühmten Rucksack voll pädagogischer Lebenserfahrung.
Einige Tage später im Vorstellungsgespräch: Die übliche Litanei des bisherigen Werdegangs war erzählt, die Frage meines Gegenübers: »Sie sagten, sie hätten hauptsächlich in der Mittelstufe unterrichtet, wäre denn die 5. Klasse eine Option für Sie?« So sehr ich mich zu erinnern versuche, kann ich mich an meine genaue Antwort auf diese Frage nicht mehr erinnern. Präsent aber ist mir noch dieses Gefühl von Glücksseligkeit in diesem Moment. Bis heute lässt mich die Frage schmunzeln, ob nun meine Schüler der Schule oder ich meinen Schülern querkam.
Kein Lächeln, keine Fröhlichkeit
Am Tag der Einschulung rief ich siebenundzwanzig Schüler einzeln zu mir in die Mitte eines großen Menschenkreises, bestehend aus der gesamten Schulgemeinschaft. Sie reihten sich nebeneinander auf. Die Schulgemeinschaft sang das Schullied für die Neuankömmlinge, danach ging es in das neue Klassenzimmer. Dort saß also nun meine neue Klasse. Ernste Gesichter, kein Lächeln, keine Fröhlichkeit erkennbar. Es dauerte nahezu eine ganze Woche des Hauptunterrichts, bis die ersten Schüler damit begannen, ihre Schultern ein wenig abzusenken, sich zu entspannen, bis die ersten Gesichter von fahlem Weiß ins Rötliche wechselten. Mein größtes Glück aber war, dass alle, ob Junge oder Mädchen, kräftige Sänger waren.
Nach dem ersten Monat, ein Fazit: Auf der einen Seite waren sie hellwach, Unterrichtsunterbrechungen gab es nahezu überhaupt nicht. Alles Neue wurde aufgesogen und Waldorf-Traditionen, wie der Morgenspruch und das Entzünden der Kerze zu Beginn des Unterrichts wurden liebevoll mitgestaltet. Wir sangen dazu: »Ehe wir beginnen, tief im Herzen drinnen …« Jedwede Art von Geschichten wurde geliebt und mit »Ahs!« und »Ohs!«, einer ersten Klasse gleich, versehen. Auf der anderen Seite gab es eine Wand unbändiger Angst und Unsicherheit! Sofort rollten Tränen, wenn einmal ein Wachsmalblöckchen zu Hause liegen geblieben war. Gelang eine Übung im Freihandzeichnen nicht auf Anhieb, wieder Tränen, die getrocknet werden mussten. Es war schwer für mich zu ertragen, mit welcher inneren Härte sich so manches dieser Kinder bereits zu strafen wusste, wenn eine Gerade nicht dem eigenen Anspruch genügte. Statt um Hilfe zu bitten, wurde versucht, das Übungsblatt im Schulranzen verschwinden zu lassen und den »Fehler« zu vertuschen. Der ständige Vergleich mit dem Sitznachbarn war in dieser Klasse normal.
In den Hausbesuchen erfuhr ich von den Quellen dieser Angst. Wer eine Drei in einer Arbeit hatte, war vor der versammelten Klasse lauthals als dumm und unnütz beschimpft worden. Nach tagelangem Pauken, Mutter und Kind gingen beide bereits am Stock, stand bei verpatzter Arbeit im Hausaufgabenheft: »Da hat wohl deine Mutter zu wenig mit dir geübt.« Studienfahrten in der Grundschule nach Frankreich: Die Kinder wurden in unterschiedlichen Familien untergebracht, einzeln und der Sprache kaum mächtig. Es waren viele Geschichten, die ich mir da einfallen lassen musste, um auch in der noch so kleinen Schülerarbeit ein Kunstwerk zu entdecken und dies der Gemeinschaft auch zu vermitteln.
Keiner sieht den Engel
Gerne erinnere ich mich zurück an die erste Bildbetrachtung mit der Klasse im dritten Unterrichtsmonat. Die Schüler stehen um das Bild herum. Ich bitte sie, das Bild still zu betrachten. »Was seht ihr?«, frage ich nach einiger Zeit in die Runde. Fast alle Schüler melden sich. Ich wähle einen Jungen aus. Die Antwort war denkbar knapp. O-Ton: »Ein Meer. Auf dem Meer ist ein Boot. In dem Boot steht ein Mann!« Damit wollte ich mich nicht so recht zufriedengeben und so fragte ich weiter: »Was seht ihr noch?« Keiner streckte mehr! Man sah in den Gesichtern meiner Schüler Verwunderung ob dieser Frage, war denn noch nicht alles gesagt worden? Wohlgemerkt, der Mann auf dem Boot war ein Engel samt ordnungsgemäßem Heiligenschein, das Meer war durch den Sturm deutlich aufgewühlt, von den zahllosen Farben in Meer und Himmel gar nicht zu sprechen. Es bedurfte nahezu einer halben Stunde, um die Schüler ins Entdecken zu bringen. Sie waren eben gewohnt, Dinge zu benennen.
Es war zur Mitte des fünften Schuljahres: Die Klasse war nach wie vor unglaublich wissbegierig und lernbereit. Ob Malen, Singen oder Flöten, alles wurde mit Fleiß und Hingabe bedacht.
Nun wurde es zur Tradition, vor Unterrichtsbeginn eine Traube um den Lehrer zu bilden und diesem gleichzeitig alles zu erzählen, was man irgendwie erzählen konnte. Da ging es um Erlebnisse von gestern, Wünsche von morgen, das Lieblingspferd im Reitverein und die tollste Hunderasse der Welt. Zeitgleich schlug etwas in der Klasse ein, was mich völlig unvorbereitet traf. Es gab die ersten Pärchenbildungen unter den Schülern samt inniger Liebesbekundungen. Wieder mussten Geschichten überlegt und Gespräche gesucht werden. Wir fanden einen Weg. Delikates muss man im Herzen bewahren, entschieden die Kinder und erkannten, dass so manches Gefühl immer mehr versiegt, je öfter man davon erzählt.
Wann sprechen wir den Morgenspruch?
Eine Frage hatte die Kinder das Schuljahr über begleitet: »Ab wann sind wir eigentlich richtige Waldorfschüler?« Die Antwort gaben sie sich am Ende der fünften Klasse selbst. Wir waren zu den olympischen Spielen der Mitteldeutschen Waldorfschulen gereist. Die erste Nacht hatten die Kinder hinter sich und so standen wir nun als Klasse vor unseren Schlafbungalows. Auf einmal fragte ein Kind: »Und wann sprechen wir den Morgenspruch?« Wir stellten uns im Kreis auf, fassten uns an den Händen und begannen. An uns vorbei liefen kleine Schülergrüppchen in Richtung Speisesaal. So mancher konnte sich da einen Spruch in unsere Richtung nicht verkneifen. Ich hatte Zweifel, wie meine Klasse reagieren würde. Sie aber ließen sich durch nichts aus der Ruhe bringen.
Als ich am nächsten Tag vorschlug, einen anderen Platz zum Rezitieren zu suchen und die Störungen des Vortags als Grund nannte, protestierten die Kinder. »Sollen ruhig alle sehen, dass uns der Morgenspruch wichtig ist.«
Die Meinung in unserem Lehrerkollegium ist einhellig. Unsere Quereinsteigerklassen bereichern unsere Schule. Sie kommen oftmals mit einem reichen Fundus an Lernstrategien zu uns. Dies ist zweifellos ein positives Vermächtnis aus ihrer Grundschulzeit. Sich seelisch mit Inhalten zu verbinden, müssen sie oftmals mühsam lernen.
Zurück zum Beginn dieses Textes: Welcher gestandenen Lehrerpersönlichkeit bedarf es, um einen derlei großen schulischen Weltenwechsel herbeizuführen? Die Antwort fällt mir heute leicht: Es geht nicht um den Lehrer, der etwas herbeiführt. Es sind die Kinder samt ihren Fragen, Entdeckungen und Ideen. Ich musste nur hinhören.
Zum Autor: Axel Rose ist Klassen- und Musiklehrer an der Freien Waldorfschule Magdeburg und Vater von vier Kindern.