Wer lernen will, braucht ein Gegenüber. Mit der Nachahmung muss man richtig umgehen
In einem Waldorfkindergarten spielt sich folgende Szene ab: Nach dem Spielen draußen im Sandkasten nimmt der Erzieher einen Dreijährigen an die Hand und beginnt zu singen: »Herbei, herbei!« Ein anderes Kind ergreift dessen Hand und so weiter, bis schließlich alle Kinder hinter dem Erzieher Hand an Hand nach drinnen gehen.
Ein anderes Beispiel: Unsere damals etwa zweieinhalbjährige Tochter ging plötzlich gravitätisch, sorgsam von einem Bein auf das andere wechselnd, die Hände auf dem Rücken übereinander geschlagen, mit einem Gesichtsausdruck großer Wichtigkeit und großer Bedeutung umher. Damals hatten wir Museen und Gemäldegalerien besichtigt, wo die Aufseher so herumgingen, voller Ernst und Verantwortung für die ihnen anvertrauten Gemälde. Diese Beispiele stehen für viele andere Erlebnisse, die Eltern mit kleinen Kindern haben.
Das Kind übernimmt das Typische der Eltern und Erzieher
Viel mehr als sich Erwachsene vorstellen können, wird das kleine Kind durch das beeinflusst, was in seiner Umgebung geschieht. Mit Haut und Haaren nimmt es alles in sich auf, was es erlebt. So verglich Rudolf Steiner in Die Kunst des Erziehens das kleine Kind mit einem Sinnesorgan, das den Einflüssen der Welt ausgesetzt ist und sie in sich aufnimmt.
Am eindrücklichsten erlebt der Erwachsene diese innere Aktivität, wenn er mit dem Säugling in Blickkontakt tritt: Das Kind hat die Augen weit geöffnet, den tiefen Blick in die Ferne gerichtet, wie in die Ewigkeit. Es scheint weit weg – und zugleich intensiv anwesend, voller Zuwendung, offen und aufmerksam. Mit derselben Offenheit nimmt das Kind später typische Bewegungen der Eltern, ihre Gesten, die Art, wie sie Luft holen, ja ganze Bewegungsmuster, wie zum Beispiel einen bärenhaften Gang, wahr. Dazu gehört auch die Sorgfalt und Aufmerksamkeit, mit der die Eltern den Tisch decken. Das kleine Kind will nicht nur das »Was« nachahmen, sondern auch das »Wie«. Mit Vorliebe ahmt es mit zwei Jahren Seufzer oder Redewendungen nach, ein »Ach ja!« und ein »Oh weh!«. Farbe, Schönheit und Musikalisches gehen »in Fleisch und Blut« über. Was das Kind aber wirklich übernimmt und was nicht, ist sein Geheimnis. So handeln Geschwister oft ganz unterschiedlich.
Vor allem innere Qualitäten macht sich das Kind zu eigen
Charakteristisch für die Nachahmung ist, dass sich das Kind das innere Wesen und die inneren Qualitäten der Menschen um sich herum zu eigen macht, nicht nur ihre Handlungen. Planmäßiges oder planloses Handeln, gute wie schlechte Gewohnheiten werden seine eigenen. Wie man bei einem guten Musiker nicht mehr den einzelnen Ton hört, sondern die Musik, wird das Nachgeahmte zu eigenen Bewegungs- und Verhaltensmustern des Kindes, seinem eigenen Lebens- und Tagesrhythmus, seinem eigenen Wesen.
Aber auch unsere moralischen Eigenschaften, die religiöse Grundauffassung des Erwachsenen, sein Grundvertrauen und sein Einklang mit der Welt übertragen sich auf das Kind. Schließlich sind es auch soziale Charaktereigenschaften wie Ehrlichkeit, Gradlinigkeit, Hilfsbereitschaft oder Mitleid, die nachgeahmt werden.
All diese inneren Qualitäten erwirbt das Kind intuitiv. Sie sind nach Rudolf Steiner (siehe Literatur) auf den Einfluss hoher geistiger Wesenheiten, die physisch und seelisch gestaltbildend wirken, zurückzuführen.
Am intensivsten wirkt die Nachahmung im Säuglingsalter und bis zur Schulzeit. Wenn das eigene Denken erwacht, gibt es schon einen kleinen Einschnitt. Im Vorschulalter geht es in den Rollenspielen darum, Vorbilder seelisch durchzuspielen, so zu werden wie der König, wie die Prinzessin oder der Sankt Nikolaus. Im Schulalter sind es dann nicht mehr die allgemeinen Vorbilder, sondern es ist der Lehrer, der vor der Klasse steht und nachgeahmt wird. Je mehr sich das Kind zur eigenen Persönlichkeit entwickelt, um so mehr emanzipiert es sich aus der Nachahmung. Ein nächster Einschnitt ist der sogenannte Rubikon im 9. Lebensjahr, wenn das Kind beginnt, dem Lehrer selbstbewusst gegenüberzustehen. Nun orientiert sich das Kind neu: Statt unbewusst nachzuahmen, beobachtet es den Erwachsenen und wählt selbst aus, was es vom Lehrer oder den Eltern lernen möchte. Mit der Pubertät endet die eigentliche Zeit der Nachahmung. Doch wirkt Nachahmung unbewusst lange fort. In einem Konzert müssen plötzlich viele Menschen husten, wenn einer beginnt. Es kratzt auch die Zuhörer im Hals, wenn der Vortragsredner heiser ist.
Ohne andere Menschen kein Lernen
Lernen ist daran gebunden, dass das Kind einen Menschen als Gegenüber hat. Lernen kann es nur durch den anderen Menschen und sein inneres Wesen. Alle Ergebnisse aus der Deprivationsforschung und zur Kindesvernachlässigung bestätigen das seit den Experimenten von Kaiser Friedrich II. im Mittelalter. Ohne den anderen Menschen geht das Kind im schlimmsten Fall zu Grunde oder wird schwer geschädigt. Neben der Persönlichkeit können auch die menschlichen Fähigkeiten Gehen, Sprechen und Denken nicht entwickelt werden. Nachmachen dagegen kann das Kind auch Vorbilder aus Video-Aufnahmen, allerdings wurde entwicklungspsychologisch bestätigt, wie gering der Lerneffekt ohne den Lehrer ist. Das physisch anwesende Vorbild ist das Wesentliche für den Lernerfolg.
Eine zweite Bedingung betrifft die Konzentration und Fokussierung: Gut nachahmen kann ein Kind nur dann, wenn es seine Aufmerksamkeit auf einen einzigen Vorgang lenkt. Alle Hintergrundgeräusche wie Musik oder Fernsehen behindern diese Form der frühen Erfahrung. Die dritte wesentliche Bedingung betrifft das Klima der Nachahmung: Um nachzuahmen, muss das Kind offen für seine Umgebung sein. Dazu braucht es ein Klima des Wohlbehagens, der Wärme und der Liebe, der Ehrfurcht und der Achtsamkeit.
Nachahmung greift in den Leib ein. Untersuchungen aus der Hirnforschung untermauern, wie Gewohnheiten in Funktion und Struktur des Menschen eingeschrieben werden. Nachahmen heißt nicht, dass das Kind immer unbedingt alles kopiert. Es wählt aus: Manches übernimmt es, manches nicht. Rudolf Steiner sprach im Hinblick auf die Nachahmung von einem Maler, der eine Landschaft malt. Das Bild ähnelt der Landschaft, stellt aber etwas Eigenständiges dar. So erklärt sich, dass das Kind eine Zeitlang eher den Vater, dann wieder die Mutter und zu einem anderen Zeitpunkt die Großmutter nachahmt. Durch die Forschungen zur Epigenetik wurde klar, dass es nicht das Erbgut allein ist, das eine Bedeutung hat. Entscheidend ist, wie das Individuum bestimmte Gene zur Benutzung freigibt oder nicht.
Zu den neueren Forschungsergebnissen, welche die Bedeutung der Nachahmung bestätigen, gehören auch die Untersuchungen zum Sprachverständnis. So versteht auch der Erwachsene die Sprache seines Gesprächspartners nur dann, wenn er sich innerlich beim Zuhören mitbewegt. Die vielfach beschriebenen Spiegelneuronen dienen diesen Nachahmungsprozessen.
Nachahmen ist nicht Nachmachen
Viele Kinder erscheinen in ihren Sinnen so wach, dass wir die leisen innerlichen Vorgänge bei der Nachahmung nicht bemerken. Dennoch bilden sie die Voraussetzung dafür, dass das Kind das Denken und später das Lernen in der Schule erwerben kann. Denken lernt man nur am Denken des anderen, eben durch Nachahmung. Sinnvolle Handlungen und sinnvolle Vorbilder erleben zu können, ist die Voraussetzung für das eigene Denken. Auch dazu ist der normale Tageslauf des Kindes ein ständiger Impuls.
Dieses unbewusste Nachahmen ist vom willentlichen Nachmachen zu unterscheiden. Es beginnt schon im ersten Lebensjahr und gewinnt ab etwa zwei Jahren zunehmend an Bedeutung. Wenn das Kind sich aufrichtet, zieht es sich an den Stäben des Bettes oder an Möbeln hoch, geht wieder herunter, wieder hoch und so fort. Das Zweijährige plappert unentwegt, das Dreijährige wiederholt begeistert seine ersten selbstständigen Gedanken.
Auf dem Weg zum eigenen Denken kommt noch ein wesentlicher Schritt, das Spiel. Spielerische Momente liegen schon im ersten Lächeln des kleinen Säuglings von acht Wochen. Im Spiel wird das Kind kreativ: Manches nimmt es nachahmend schlafend auf, mit anderem spielt es nur probierend und lässt es wieder, freilassend, unverbindlich und lächelnd. Mit zwei bis drei Jahren will das Kind etwas genau so tun können wie seine Eltern oder Erzieher. Nun lernt es Abläufe, wie das Tischdecken, Aufräumen oder das Herbeiholen eines Blattes zum Malen. Dieser Impuls zum Nachmachen kommt aber aus dem gleichen seelischen Bedürfnis wie die Nachahmung: Das Kind will nicht nur das Gleiche tun, wie der Erwachsene, sondern genauso sein. Wenn das nicht gelingt, kann es verzweifeln. So kann man den Schritt von der Nachahmung zum willentlichen spielerischen Nachmachen oft nicht genau abgrenzen. Das eigene Denken erwacht dann mit Macht am Sprechen im dritten Lebensjahr, doch hat es sich schon lange vorgebildet. Zum Beispiel an der Liebe, Umsicht und Achtung, mit der die Mutter den kleinen Säugling an die Brust gelegt hat. In dem Umfang, wie die Nachahmung abnimmt, nimmt zum Schulalter hin das aktive gewollte Üben zu. Üben zu wollen ist gerade ein Zeichen der Schulreife. Das Schulkind will nicht mehr unbewusst so werden wie der Erwachsene, sondern hat seine eigenen Kriterien für Qualität. Das kann beim behinderten Kind anders sein: Zwar kann es im Innern nachahmend aufnehmen, aber vieles nicht nachmachend in die Tat umsetzen.
Was fordert kindliche Nachahmung vom Erwachsenen?
Jedes Kind braucht Vorbilder, doch wie soll sich der Erwachsene verhalten? Die Antwort ist einfach und zugleich schwer: Einfach nur so sein, wie man ist; authentisch sein, man selbst sein. Man muss um seine Verantwortung wissen – dann macht man vieles vielleicht noch eine Spur bewusster. Das Kind braucht das gesunde Klima der Liebe und das gesunde Vorbild des Erwachsenen, wie der Maler sein Modell oder die Landschaft, um sich zu Neuem und Eigenem anregen zu lassen. Was das Kind daraus macht, ist Sache seiner Persönlichkeit und Freiheit.
Zum Autor: Dr. Karl-Reinhard Kummer ist Kinderarzt und Schularzt, er lebt in Berlin.
Literatur:
R. Steiner: Menschenerkenntnis und Unterrichtsgestaltung, Vortrag vom 19.6.1921, GA 302, Dornach 1986, S. 122 ff.; ders.: Die geistigen Hintergründe des ersten Weltkrieges, Vortrag vom 23.4.1918, Dornach 1974, S. 310 ff.; ders.: Mitteleuropa zwischen Ost und West, Vortrag vom 4.5.1918, GA 174a, Dornach 1982, S. 283; ders.: Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage, Vortrag vom 27.2.1921, GA 304, Dornach 1979, S. 35 ff.
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