Werdet anders! Ein Appell an die Waldorfschule

Friederike Faber

Und dann begann ich, diese Aussage zu hinterfragen. Sicher, wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Sicher, im späteren Leben werden wir immer wieder mit unpersönlichen und unrealistischen Bewertungsmethoden konfrontiert. Sicher, auch später werden wir stupide Fakten aufzählen müssen, ohne Zusammenhänge, Verbindungen, Parallelen und Auswirkungen zu kennen.

Aber müsste uns Schülern dann nicht ein Umgang mit eben jenen Dingen beigebracht werden? Müssen wir in dieser Leistungsgesellschaft nicht lernen, auch über die ein oder andere vergleichende Leistungsbilanz hinwegzusehen und sie uns nicht so zu Herzen zu nehmen? Müssen wir nicht lernen, wie wir uns trotz des Notenvergleichs in unseren individuellen Werten anerkennen? Ist nicht erst ein Lernen, in dem Interesse geweckt wird, statt dass Fakten aufgezählt werden, sinnvoll? Ich habe als Mittelstufenschüler immer meinen Hut davor gezogen, dass die Waldorfschule es schafft, in einem von staatlichen Schulen dominierten Land ihr Ding durchzuziehen. Aber jetzt denke ich, die Waldorfschule macht es sich zu einfach. Dass Noten mit einer individuellen Leistung nichts zu tun haben, ist, glaube ich, jedem bewusst und ich verstehe auch, dass es staatlich vorgegebene Normen zu erreichen gilt, um einen staatlich anerkannten Abschluss abzulegen. Aber ich hatte eigentlich ein Bild von meiner Schule in mir, in dem sie den Spagat zwischen eben diesen Normen und der Individualität des einzelnen Schülers überbrückt. In meinem bisherigen Leben habe ich gelernt, zu mir zu stehen. Ich weiß, dass ich immer so gut bin, wie ich es gerade sein kann. Ich habe Respekt, Anerkennung und Toleranz gelernt, immer begleitet von Menschen, die Wert darauf legten, mich zu fördern und zu stützen, nie aber mich zu überfordern und zu bewerten. Dafür bin ich dankbar.

Stark und autonom

Niemals wurde ich nach einem Zahlenwert definiert. Niemals habe ich einen so auf uns ausgeübten Druck erleben müssen. Führt er nicht dazu, dass Viele entmutigt werden? Ich glaube, er macht sie nicht stärker und autonomer für das spätere Leben. Es macht sie stumpf, klein und unsicher. Und mit dieser inneren Haltung fühlen sie sich nicht auf Kommendes vorbereitet.

Wie wünsche ich mir die Aufgabe, die Verantwortung und die Freude eines Lehrers? Ich stimme voll mit der Ansicht überein, dass die Aufgabe darin besteht, den Schüler an seinem jeweiligen Standort abzuholen, ihn zu begleiten und nicht, ihn von oben herab mit Wissen vollzustopfen. Die Entwicklung des kreativen Individuums sollte im Vordergrund stehen und nicht das Heranziehen angepasster Staatsbürger. Seine Verantwortung ist, eben jenen werdenden Erwachsenen zu helfen, ein Selbstbewusstsein, das uns immer halten wird, zu entwickeln. Mittlerweile sehe ich meine Lehrer den größten Teil eines Wochentages. Und auch, wenn ich beginne, meinen eigenen Weg zu gehen, werden in mir immer weiter die Vorbilder leben, die sie mir gegeben haben. Was ist das, wenn nicht Verantwortung?

Ich frage mich, ob die zur Zeit praktizierte Form der Vermittlung der Lerninhalte noch etwas mit den Grundgedanken Steiners zu tun hat. Ein »Auf staatlichen Schulen ist das auch so!« bin ich nicht bereit zu akzeptieren. Nicht umsonst bin ich eben nicht auf einer staatlichen Schule.

Ich habe viel mit Trotz, Rebellion, Widerspruch und Verweigerung auf die Unterrichtsinhalte reagiert, was mich viel Kraft gekostet hat und auch nicht der richtige Weg war, ich weiß. Zur Zeit probiere ich, mir nur die Dinge anzueignen, die ich für sinnvoll erachte und den Rest über mich ergehen zu lassen und stoisch auswendig zu lernen, um sie nach dem Test wieder zu vergessen.

Das Wissen von Jahrhunderten passt nicht in 13 Jahre

Nur die Unterrichtsinhalte, die Interesse bei mir wecken (und ich halte mich für neugierig genug, für fast alles Interesse aufbringen zu können), bleiben hängen, können von mir miteinander verknüpft und weiter verarbeitet werden, um ein großes Ganzes zu bilden. So kann ich mich zum Beispiel an Unterrichtsinhalte aus den allerersten Schuljahren erinnern, die uns in spielerischer Weise vermittelt wurden und sie auf heutige Lerninhalte beziehen. Das zeigt mir, dass die frontalen Lehrmethoden, die ich jetzt erlebe, zu hinterfragen sind, denn sie haben fast keine Nachwirkungen bei mir. Mir geht es um das Verstehen an sich, um die Welt, das Leben. Ich will urteilsfähig werden! In einem Zeitalter, in dem sich alles rasend schnell entwickelt, kann gar nicht alles über Jahrhunderte erkannte und erforschte Wissen in dreizehn Jahren vermittelt werden. Vielleicht sollte die Schule mit der Zeit gehen. Vielleicht sollte die Aufgabe einer Schule darin bestehen, ihre Schüler auf das spätere Leben vorzubereiten – aber nicht durch Benotung auswendig gelernter Fakten. Vielleicht sollte sie die Fähigkeit vemitteln, Zusammenhänge, Verbindungen, Parallelen und Auswirkungen zu erkennen, damit der Lernende selber seinen Weg finden und sich auf Neues spielend leicht einstellen kann. Dann können wir Kinder die Zukunft bauen.

Zur Autorin: Friederike Faber besucht die 12. Klasse der Freien Waldorfschule in Leipzig