Wie die Waldorfpädagogik den Neoliberalismus überwindet

Gunter Keller

Ist der Mensch in der Lage, die Welt wirklich zu erkennen? Mit dieser Frage beschäftigte sich der Philosoph Descartes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Er zog die Verlässlichkeit der menschlichen Sinne in Zweifel und verließ sich vor allem auf seine Denkfähigkeit. Dieses Denken hielt er für so bedeutsam, dass er zu dem berühmten Ausspruch kam: »Ich denke, also bin ich.«

Dies bedeutete für die Geschichte des philosophischen Denkens eine Revolution, da nun das Selbstbewusstsein des Menschen in den Vordergrund rückte. Das Denken (die Vernunft) zieht alles, was der Mensch von der Welt erfährt, in Zweifel. Der Dualismus von Ich und Welt wurde geboren.

Descartes schuf die Grundlage dafür, dass der Mensch sich als ein Wesen sieht, das von der Welt getrennt und nicht in der Lage ist, sie wirklich zu erkennen. Diese Auffassung wurde von vielen Denkern aufgegriffen: Neben Immanuel Kant sind hier vor allem Konstruktivisten und Dekonstruktivisten des 20. Jahrhunderts zu nennen.

Die Kräfte des Marktes

Die Theorie, die Descartes formulierte, ist bis heute für viele Ökonomen maßgeblich. Sie wurde dahingehend weiterentwickelt, dass dem von der Welt abgetrennten Menschen die Attribute Gewinnstreben, Nutzenmaximierung und Egoismus unterstellt wurden. Dieses in seine Egoität eingesponnene Individuum bezeichnen wir heute als »Homo Oeconomicus«.

Der Homo Oeconomicus ist also ein Mensch, der danach strebt, seinen Gewinn, seinen Nutzen und seinen persönlichen Reichtum zu maximieren. In der Geschichte der Ökonomie wird die Figur des egoistisch handelnden Menschen durch Adam Smith mit folgenden Sätzen eingeführt: »Wer einem anderen einen Handel anträgt, macht ihm den folgenden Vorschlag: Gib mir, was ich will, und du sollst haben, was du willst – das ist der Sinn jedes derartigen Anerbietens; und so erhalten wir voneinander den bei weitem größeren Teil der guten Dienste, die wir benötigen. Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.«

Der Mensch wird als ein egoistisch handelndes Individuum beschrieben, dessen Ziel ausschließlich der eigene Vorteil ist. Adam Smith geht sogar so weit zu behaupten, auf diese Weise entstehe der größtmögliche Wohlstand für alle. Dafür, dass aus eigennützigem, egoistischem Handeln der gesellschaftliche Wohlstand entsteht, sorgt eine »unsichtbare Hand«, nämlich das unsichtbare Wirken des Marktes.

Adam Smith beschränkt den Menschen aber nicht nur auf das Prinzip Egoismus. Er nennt in seinem Buch »Theorie der ethischen Gefühle« zwei weitere Prinzipien. Der Mensch ist nämlich auch Altruist. Er ist in der Lage, mitzuempfinden, wie es anderen Menschen geht, er vermag sich zum Beispiel mit anderen zu freuen. Schließlich kennt Smith auch noch das Streben nach Gerechtigkeit, die durch ehrliche »Spielregeln« in einer Gesellschaft gewährleistet werden soll: »In dem Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Avancement, da mag er rennen, so schnell er kann und jeden Nerv und jeden Muskel anspannen, um all seine Mitbewerber zu überholen. Sollte er aber einen von ihnen niederrennen oder zu Boden werfen, dann wäre es mit der Nachsicht der Zuschauer ganz und gar zu Ende. Das wäre eine Verletzung der ehrlichen Spielregeln, die sie nicht zulassen könnten.«

Laut Smith wird das Marktgeschehen also nicht nur von den egoistisch handelnden Individuen und der »unsichtbaren Hand« zum Wohle aller beeinflusst, sondern auch von Empathie und Gerechtigkeit.

Der Börsenspekulant als Vorbild

Bei Smith steht der ökonomisch handelnde Mensch noch in einem Kontext von Moral und sozialem Verhalten (Empathie und Gerechtigkeit). Der entscheidende Schritt zum Homo Oeconomicus wird getan, wenn Empathie und Gerechtigkeit ausgeklammert werden. Dieser Schritt wurde von David Ricardo vollzogen. Er verstand den Menschen als ausschließlich ökonomisch, rational und egoistisch handelndes Individuum. Ricardo diente der kapitalistische Börsenspekulant als Vorbild: »Solange es jedermann freisteht, sein Kapital dort anzulegen, wo es ihm gefällt, wird er selbstverständlich die vorteil­hafteste Anlage aussuchen. Er wird natürlich mit einem Profit von 10 Prozent unzufrieden sein, wenn er durch eine Übertragung seines Kapitals einen Profit von 15 Prozent erzielen kann.« Ricardo reduziert den Menschen auf den Egoismus als Triebfeder des Handelns. Diese Anschauung wurde von vielen Ökonomen der sogenannten Neo-Klassik und zum Teil auch von Neoliberalen aufgegriffen. Das egoistische Handeln wird für gut befunden und gefördert, da so der größtmögliche Wohlstand für alle erzeugt werde.

Die Überwindung des Homo Oeconomicus

Rudolf Steiner setzte sich in seinen erkenntnistheoretischen Schriften ausführlich mit der oben beschriebenen Dualität von Ich und Welt und der damit verbundenen Befangenheit des Menschen in sich selbst auseinander. Er kam zum Ergebnis, dass der Mensch sich zwar seine eigene Vorstellungswelt aufbaut und dadurch von allen anderen Menschen unterscheidet. Aber durch sein Wahrnehmungsvermögen und seine Denkfähigkeit ist er prinzipiell in der Lage, seine Mit- und Umwelt zu erkennen und die trennende Kluft und den Egoismus zu überwinden. Der Mensch ist nach Steiner nicht nur egoistisch in sich abgeschlossen, sondern verbindet sich auch altruistisch mit der Welt. Denn er vermag nicht nur zu denken, sondern auch die Gedankengänge anderer Menschen nachzudenken und mitzudenken. Beim Fühlen verhält es sich ähnlich. Der Mensch erlebt nicht nur seine Gefühle, wie zum Beispiel Freude und Angst, sondern vermag auch, mit anderen mitzufühlen und das mitzuempfinden, was andere Menschen in ihrem Innern erleben.

Dasselbe gilt für das Handeln. Der Mensch kann alleine oder zusammen mit anderen seine egoistischen Ziele verfolgen und sie in die Tat umsetzen. Aber er kann sich auch mit anderen Menschen so abstimmen, dass Handlungen, die aus der Sache heraus und unabhängig von ihm getan werden müssen, tatsächlich getan werden. Diese Handlungen gehen dann nicht aus egoistischen Motiven hervor, sondern aus der Sache selbst.

Menschenkundliche Aspekte

Der Mensch wird von Steiner als ein Wesen aufgefasst, das sich von der Welt abschließen und ein auf sich selbst bezogenes und damit egoistisches Leben führen kann. In einem Grundlagenwerk der Waldorfpädagogik, der »Allgemeinen Menschenkunde«, führt Steiner für diese Verhaltensweise den Begriff der »Antipathie« ein. Damit ist kein Gefühl, sondern eine Grundhaltung zur Welt gemeint. Diese Haltung führt dann in Egoismus und Selbstbezogenheit, wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, sich zu öffnen und mit der Welt zu verbinden.

Die Fähigkeit des Menschen, sich mit der Welt zu verbinden und sich ihr gegenüber zu öffnen, bezeichnet Steiner als »Sympathie«. Auch hier ist zunächst kein Gefühl gemeint, sondern ein Grundverhältnis zur Welt. Der Mensch ist nicht in sich gefangen, sondern kann sich durch sein Denken, Fühlen und Handeln mit der Welt verbinden, diese erleben und sich von ihr anregen lassen.

Das menschliche Ich lebt in einer Pendelbewegung: Es trennt sich von der Welt (Antipathie) und verbindet sich mit ihr (Sympathie). Wie dieses Pendel schwingt, bestimmt jeder selbst.

Aufgabe der Waldorfpädagogik ist es, das einseitige Bild des Menschen, das in ihm nur ein egoistisches, nach Gewinn strebendes und ausschließlich rational handelndes Individuum sieht, zu überwinden. Sie will aber nicht nur das einseitige Bild korrigieren, sondern auch die ihm zugrunde liegende Realität verändern. Sie fördert nicht nur die Kräfte der Antipathie, sondern auch jene der Sympathie, ja vor allem diese, da die Kräfte der Antipathie heute ohnehin überwiegen.

Wenn dies gelingt, wird die Grundlage für ein Handeln geschaffen, in dem sich der Mensch an den Notwendigkeiten und Realitäten seiner Mit- und Umwelt ausrichtet. Die Kinder und Jugendlichen sollen dazu befähigt werden, die Welt durch ihr Denken zu verstehen, durch ihr Fühlen mitzuempfinden und durch ihr Handeln sachgemäß auf sie zu wirken: Ziel ist es, das Wahre denken, das Schöne empfinden und das Gute tun zu können. Diese Ideale orientieren sich nicht an unseren egoistischen Zielen, sondern liegen in den Dingen und Tatsachen der Welt begründet. Lernen in der Schule bedeutet, die Welt verstehen und lieben zu lernen, so dass unsere Kinder später, wenn sie erwachsen geworden sind, sachgemäß in der Welt und für die Welt handeln können.

Zum Autor: Dr. Gunter Keller, Geologe und Waldorflehrer, ist Dozent an der Akademie für Waldorfpädagogik Mannheim.

Literatur:

Adelheid Bisecker, Stefan Kesting: Mikroökonomik, München 2003 | Rene Descartes: Die Prinzipien der Philosophie, Hamburg 2005 | Friedrich von Hayek: Der Weg zur Knechtschaft, München 1991 | David Ricardo: Über die Grenzen der Politischen Ökonomie und der Besteuerung, Berlin 1959 | Adam Smith: Eine Untersuchung über Natur und Wesen des Volkswohlstandes, Gießen 1973 | Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1985 | Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Dornach 1988 | Rudolf Steiner: Allgemeine Menschenkunde, Dornach 1992