Wie nachhaltig ist der Waldorflehrplan?

Christian Boettger

Das ist die entscheidende Frage: Woran liegt es, dass wir seit Jahrzehnten wissen, wie schädlich der immense Energie- und Rohstoffverbrauch der Menschheit ist, aber kaum jemand für sich und seine nähere Umgebung, geschweige denn sein Land, seinen Kontinent oder gar die gesamte Erde lebensnahe Konzepte konkret umsetzt? Wieso handeln wir nicht nach unserem besseren Wissen, sondern immer noch falsch?

Wenn wir den Kindern einen klar strukturierten und bestens ausgeklügelten Unterricht zur Nachhaltigkeit bieten, dann wird das Thema im besten Falle verstanden. Aber haben wir die damit verbundenen Probleme auch intensiv durchfühlt, haben wir sie konkret erlebt, so dass sie sich bis in unser Willenskostüm eingeprägt haben? Ist es nicht so, dass man erst, wenn man die Dinge bis in die aktive Tätigkeit hinein wirklich erfahren und erlitten hat, also neben dem intellektuellen Verstehen auch eine tätige Verbindung eingegangen ist, einen echten Zugang zu dieser Sphäre des Lebens hat? Wenn dem so ist, muss dann ein Unterricht, der zur nachhaltigen Nachhaltigkeit erziehen will, nicht einem Konzept folgen, das insbesondere den tätig werdenden Menschen einbezieht?

Diesen Zusammenhang von Erleben und Wissen vermittelt die Waldorfpädagogik besonders stark. Das fängt schon im Kindergarten an, wenn die kleinen Kinder ganz normale Abläufe im Haushalt miterleben und mitmachen. Sie helfen bei der Zubereitung des Müslis, backen Brötchen, schnippeln Gemüse und Obst und arbeiten auch schon – wenn vorhanden – im Garten mit; womöglich müssen sogar Tiere versorgt werden. Die Kinder lernen Nachhaltigkeit, indem sie einfach mitmachen. All diese Tätigkeiten werden von den Kindern im Spiel vertieft.

Zum Beispiel in der dritten Klasse: Da wird der Prozess vom Korn zum Brot vollständig erlebt. Wie schwer es ist, ohne Motorkraft einen Acker umzupflügen und wie klein die Getreidekörnchen sind, die nun ausgesät werden. Bei ihren regelmäßigen Besuchen erleben die Kinder das Keimen der Pflanzen, das unglaublich schnelle Wachstum auf ihrem Feld, wie das Getreide reift, wie es sich anfühlt, wie es duftet und schmeckt. Schließlich wird von Hand geerntet und gedroschen und in der Schule das Korn gemahlen und zu Brot verbacken. Ein Teil wird zurückbehalten, denn nächstes Jahr muss wieder ausgesät werden. Dieser Durchgang dauert ein Jahr und die Kinder wissen jetzt nicht nur, welche Arbeitsschritte und Tätigkeiten hinter einem Brot oder Brötchen stecken, sondern haben es selbst erfahren. Damit bekommen sie einen aus der eigenen Arbeit gewonnenen realen Bezug zu dem Lebensmittel Brot – und erhalten dadurch einen nachhaltigen Bezug zur Ernährung. Dazu gehört auch die Aufgabe, eigene Beete anzulegen, Gemüse zu pflanzen und später zu ernten – alles Erfahrungen, die sie mit all ihren Sinnen machen – nicht zuletzt auch geschmacklich – und mit dem Wert von Lebensmitteln verbinden. Diese Erfahrungen bilden die Grundlage für ein späteres Bewusstsein für gute, nachhaltig hergestellte Lebensmittel.

Einen weiteren Bereich stellt die Tier- und Pflanzenkunde dar. Rudolf Steiner legte Wert darauf, diese Themen, die heute dem Biologieunterricht zugeordnet werden, direkt an die Erfahrung der Kinder anzubinden und auf den Menschen selbst zu beziehen. Diese menschliche Beziehung zum Reich der Tiere und Pflanzen bildet die Grundlage einer nachhaltigen Erziehung, denn alles ist ein Teil von uns, den es zu pflegen und zu hegen gilt, so wie wir uns selbst auch zu pflegen haben. In diesen Epochen kommt es nicht so stark auf die tätige Verbindung an, sondern auf die tiefen und erfahrungsgesättigten Bilder, die die Lehrer in den Kinderseelen hervorrufen.

Diese menschliche Verbindung zur » Mutter Erde « reißt auch in der Oberstufe nicht ab, so zum Beispiel in der 11. Klasse. Im Ökologiepraktikum wurden in einem Moorgebiet unter Anleitung des Försters bestimmte Bäume herausgenommen, damit die Vögel und andere Tiere wieder Flugschneisen und Zugangsmöglichkeiten erhielten. Während die eine Hälfte der Klasse hart im zugewucherten Wald arbeitete, beschäftigte sich die andere in kleineren Biotopen wie Bachläufen, Wiesenstücken, Feld- oder Waldrändern mit Pflanzen- und Tierbestimmung sowie Kartierung – erdergreifende und erdgestaltende Tätigkeit und reflektierende Wahrnehmung im sich gegenseitig steigernden Wechsel.

Eine Forschungsfrage zur Nachhaltigkeit könnte sein, ob die Kinder und Jugendlichen, die auf diese Weise einen vollumfänglichen Zugang zu ihrem Menschsein und der Verantwortung für die Lebensprozesse der Erde erhalten haben, auch im Erwachsenenalter nicht nur wissen, was für die Nachhaltigkeit zu tun wäre, sondern das auch konkret anpacken.

Zum Autor: Christian Boettger war knapp 20 Jahre Oberstufenlehrer und ist seit 13 Jahren im Bund der Freien Waldorfschulen und der Pädagogischen Forschungsstelle als Geschäftsführer tätig.