Wie oben so unten. Eine Weihnachts-Betrachtung

Christof Wiechert

In den 1960er Jahren schrieb der Soziologe Herbert Marcuse das Buch »Der eindimensionale Mensch«. Darin beschreibt er einen Menschen, der eingeklemmt ist zwischen Technologie und Ökonomie. Er wird zu einem Konsumenten reduziert, der nur sein leibliches Wohl anstrebt, eine andere Dimension sieht er nicht. Das Buch erreichte in kurzer Zeit Kultstatus, jeder las es; aber man war sich sicher, soweit würde es nie kommen! Marcuse selber war kritischer: Er sah – außer Begeisterung – wenig Wirkung von dem Buch ausgehen.

Marcuse ist erst 50 Jahre her. Es ist erstaunlich, wie kurz das historische Gedächtnis und Bewusstsein geworden ist. Wer erinnert sich noch, welche großen Hoffnungen auf eine Zeitenwende man noch vor 30 Jahren hegte? Liegt es an der schulischen Bildung, dass die Zeitereignisse so wenig nachhaltig wirken? Sind wir uns als Erzieher und Pädagogen dieser Aufgabe genügend bewusst, dass das historische Bewusstsein heute schwach entwickelt ist? Wie kann es angelegt werden? Doch wohl erst durch das Interesse an der Welt und davor durch eine beseelte Liebe zur Welt. Auf einer solchen Grundlage kann Geschichtsunterricht erst Sinn machen und wirksam sein. Liebe für, Interesse an, dann Bewusstsein wecken, das sind die bedeutenden pädagogischen Stufen. Nicht eindimensional, sondern mindestens zweidimensional betrachtet Rudolf Steiner den Menschen. Diese Zweidimensionalität findet wenig Beachtung bei denen, die die »Allgemeine Menschenkunde« studieren. Sie ist im Werk Steiners ein wenig versteckt, obzwar sie schon im ersten Vortrag wie ein kleiner Diamant funkelt: »Die Aufgabe der Erziehung, im geistigen Sinn erfasst, bedeutet das In-Einklang-Versetzen des Seelengeistes mit dem Körperleib oder dem Leibeskörper.« Wenn dieser Einklang hergestellt ist, bildet der Mensch tatsächlich eine Mitte zwischen Oben und Unten, ist er Bürger zweier Welten! Ist das erreicht, kann er seine Lebensaufgabe in Angriff nehmen.

Es kann hilfreich sein, den kleinen, mikrokosmischen Menschen, ab und zu neben den makrokosmischen Menschen zu stellen. Versuchen wir es. Betrachten wir die Gestalt, die Leonardo da Vinci gesehen und gezeichnet hat: den sogenannten vitruvianischen Menschen (Abb. links). Wir sehen einen nach den Höhen gewendeten Teil, einen mittleren Teil, der offen ist für den Umkreis, und einen Teil, der Fundament ist, der Erde und der Schwerkraft buchstäblich verbunden. Aber Arme und Beine zeigen eine zweite Geste: Die Arme können den Umkreis umfassen, aber sich auch den Höhen zuwenden. Die Beine sind Fundament, können sich aber auch auf die Mitte zubewegen. Und dieser Mensch, dieser »uomo universale«, steht in einem Quadrat, zugleich aber in einem Kreis, er ist Erde (kleine Welt) und Kosmos (große Welt) zugleich. Dieses Bild fasst die pädagogische Aufgabe zusammen. – Der Mainstream ist heute aber ein anderer. Er hat eine positivistisch-reduktionistische Prägung, ist also materialistisch orientiert. Was heißt das für die Erziehungswissenschaften? Es heißt, dass Wissenschaft den kosmischen Bezug des Menschen durch die Denkformen von heute verloren hat und allein seine irdischen Aspekte ins Auge fasst. Seine oberen Fähigkeiten werden als Äußerung des Stofflichen gedacht.

Die innere Mitte finden

Was heißt das für das In-Einklang-Versetzen? Es heißt, dass Marcuse recht bekommt, dass wir eindimensional werden. Das wirkt sich unter anderem darin aus, dass unser Denken »schwer« wird, dass es ihm widerstrebt, Nichtstoffliches zu denken, dass es keine Schönheit denken will und sich gegenüber geistgetragenen Gedanken verschließt. Die Aufgabe der Pädagogik ist aber, das Denken beweglich, geschmeidig, ja fast lebendig zu machen. (Die beste Vorsorge übrigens gegen spukhafte Ideen einer coronainfizierten Zeit, denn diese bewegliche Geschmeidigkeit gebiert gesunden Menschenverstand.) Einem mächtigen Korrektiv zur Verhärtung des Denkens durch die Eindimensionalität begegnet man im Wochenspruch aus dem sogenannten Seelenkalender Rudolf Steiners zur Michaeli-Zeit: In der Tat sind wir Natur (Stoff), aber die Natur gebiert unseren Willen, und der ist nicht stofflich. Und die Macht des Willens stählt den Geist, die »Geistestriebe«. Es ist das In-Einklang-Versetzen von unten herauf:

Natur, dein mütterliches Sein,
Ich trage es in meinem Willenswesen;
Und meines Willens Feuermacht,
Sie stählet meines Geistes Triebe,
Daß sie gebären Selbstgefühl,
Zu tragen mich in mir.

Kräftiger kann man sich die Integration des unteren Menschen in den oberen nicht vorstellen. Man darf sich fragen, was heißt denn: Zu tragen mich in mir?

Es gibt eine Meditation für Lehrer – Steiner nennt sie eine »mantrische Formel« –, in der geschildert wird, wie aus dem Gegensatz des oberen und des unteren Menschen eine Spannung entsteht. Diese Spannung nennt er »Bewusst-Sein«. Und tatsächlich: Bewusstsein zwingt, presst den Gegensatz in sich zusammen. Und dieses Bewusstsein soll den kosmischen Menschen an den irdischen binden, dadurch dass die »Weltenhelle« sich mit dem »Erdendunkel« verbindet. Auch hier wird Oben und Unten in Einklang versetzt.

Ganz mächtig und zugleich zart kommt das zum Ausdruck im Wochenspruch zu Weihnachten. Das »Geisteskind im Seelenschoß« ist »entzaubert«, entbunden. Das Selbstgefühl des Herbstspruches (Michael-Stimmung) konnte das Geisteskind empfangen. Gezeugt vom »heiligen Weltenwort«. Es verkörpert der »Hoffnung Himmelsfrucht«. Das »Tragen mich in mir« wächst zum Geisteskind heran und erweckt den Jubel der »Weltenfernen«. Das In-Einklang-Versetzen hat nun die Geste von oben nach unten angenommen. Und »des Wesens Gottesgrund« strahlt es zurück.

Ich fühle wie entzaubert
Das Geisteskind im Seelenschoß;
Es hat in Herzenshelligkeit
Gezeugt das heilʼge Weltenwort
Der Hoffnung Himmelsfrucht,
Die jubelnd wächst in Weltenfernen
Aus meines Wesens Gottesgrund.

Wir können den ganzen Menschen nur verstehen, wenn wir ihn mindestens als Bürger zweier Welten denken.

Es macht die Aufgabe der Eltern und Lehrer einsichtiger und somit einfacher, wenn wir immer bedenken, dass die Erscheinung hier auf Erden ein Ausdruck der Verhältnisse, der Dynamik zwischen Oben und Unten ist. Daraus können Eltern, Erzieher und Lehrer, je nach Altersstufe, die »rechte Mitte« entwickeln.

Auch Friedrich Schiller wollte die »rechte Mitte« finden, als er in seinen Briefen
an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg die Polarität von Stofftrieb und Formtrieb beschrieb, die zusammenkommen und den Menschen zum Menschen machen im Spieltrieb.

Zum Autor: Christof Wiechert war Waldorflehrer und Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.