Wie Wörter zu Worten werden

Alec Templeton

Die Lehrerin gibt ihrer Kreisnachbarin irgendeinen Gegenstand, zum Beispiel einen Ball, den sie durch Schälbewegungen in eine Banane verwandelt hat. Alle, die es sagen können, rufen »banana!« (oder das entsprechende Wort der jeweiligen Zielsprache). Dem Mädchen neben der Lehrerin ist klar, dass sie die »Banane« ihrerseits in etwas anderes verwandeln soll. Sie macht mit dem Ball Putzbewegungen über ihre Schuhe und einzelne Kinder rufen »shoebrush!«, während andere sich erst in dem Moment an das Wort erinnern und einige es vielleicht überhaupt zum ersten Mal hören. Es handelt sich also um eine Übung, die Mitmachen für jedes Sprachniveau ermöglicht.

Es folgen »apple, mouse, peach, remote control, cellphone, lipstick, comb, toothbrush, suntan lotion, flower, razor, magnifying glass …«. Die Bezeichnungen oder »Namen« der jeweiligen Gegenstände werden durch Gesten und Körperhaltung hervorgerufen. So geübt prägen sich die Wörter leichter und besser ein. Sie bleiben mit einer Bewegung verbunden.

Worte innerlich ertasten lernen

Der Ausdruck »Vokabel« evoziert Listen von Einzelwörtern mit muttersprachlicher Entsprechung – sogenannte Wortgleichungen – die es zu »büffeln« gilt, die »abgefragt« werden. Das Wort »vocabulum« deutet auf ein kleines Etwas, das man »ruft« oder »nennt«. Rufen wir Einzelwörter wie oben beschrieben, dann ist das Wort »Vokabel« zutreffend! Das Rufen oder Sagen der Wörter führt zu intensivem Hören der Sprache.

Das innere Hören ist die Basis für das Sprechen und Hören beruht darauf, dass man die gehörten Laute exakt hervorbringen kann. Erst längere Wörter oder Wortgruppen haben die bestimmte innere Bewegung, die Intonation, den Rhythmus und das Betonungsmuster, die eng mit der Natur und Wirkungsweise unseres Gedächtnisses verbunden sind.

Schüler müssen die Sprache bis in ihr Innerstes hören lernen. Ich rufe auf, Übungen und Unterrichtstätigkeiten zu entwickeln, die dazu führen, dass die Schüler Wörter nicht nur äußerlich und gegenständlich erleben, sondern dass sie sie innerlich ertasten, erfassen und denken dürfen.

Wie kann ich das bewirken? Zum Beispiel, indem ich nach dem Erzählen einer Geschichte die Kinder frage: »Wer weiß noch ein Wort aus dieser Geschichte?« Danach schreibe ich die genannten Wörter an die Tafel – oder besser noch: ich lasse sie – insofern die Schüler das schon können –, an die Tafel schreiben. Wir pflegen dadurch mittels Gehörgedächtnis eine analytische Tätigkeit und fügen anschließend die Einzelwörter wieder zu Sinngruppen und Satzteilen zusammen: Ich zeige auf eines der angeschriebenen Wörter und frage: »Weiß jemand ein Wort, das vor oder nach diesem Wort kam«? Wir entdecken, wie einzelne Wörter auf verschlungenen Wegen zueinanderfinden und uns Ereignisse, Szenen und Abläufe schildern, Gesagtes wiedergeben, überhaupt Botschaften vermitteln.

Dann können wir fragen: »Wisst ihr noch, in welchem Zusammenhang ihr dieses Wort zuerst gehört habt? War es eine Geschichte? Ein Spiel? Ein Zungenbrecher? Etwas, das eine Kameradin gesagt hat«?

Eine weitere Vertiefung ergibt sich, indem man Muttersprachler in der Klasse bittet zu sagen, wie sie in ihrer Sprache zum Beispiel »Vogel« sagen: »bird, oiseau, ptitsa, pajaro, uccello …« Dann fragen wir: »Sind diese Vögel alle gleich? Machen sie alle das gleiche? Sind sie gleich groß?« Wir merken: In einigen Sprachen ist es eher der fliegende, sitzende oder singende Vogel, der sich im Wort versteckt. Bei »bird« denkt der Engländer vielleicht eher an Geflügel auf dem Teller.

Für das Gedächtnis ist es eine große Hilfe, wenn Schüler die Wörter in ihrer Laut- und Bildgestalt wirklich auskosten können. Die Englischlehrerin meiner Mutter berichtete, dass Rudolf Steiner bei einem seiner Besuche an der damals existierenden Friedwartschule in Dornach ein Vokabelbüchlein sah und bemerkte: Wenn schon solche Listen, dann mit Wortgleichungen aus fünf oder sechs Sprachen! Meine Mutter hatte noch ein solches Vokabelheft.

Methodisch-didaktisch gilt es, die Kinder und Jugendlichen beim Lernen einer fremden Sprache möglichst viel zu ermutigen. Ein Test, bei dem die Schüler das Gefühl haben, ihr Lehrer möchte sie nur bei dem erwischen, was sie nicht wissen, wirkt entmutigend statt anspornend. Wenn ein Schüler das Gefühl hat, »der Lehrer traut mir zu, dass ich etwas kann, er nimmt mich ernst«, dann fühlt er sich ermutigt. Etwas »verstanden« zu haben, überhaupt Erfolgserlebnisse führen dazu, dass Jugendliche bereit sind, selbst die Verantwortung für ihre Lernprozesse zu übernehmen.

Die angedeutete Arbeit an und mit Wörtern legt an, dass Sprache als Sich-Entwickelndes, Entstehendes und Entstandenes erlebt wird und sie nicht als Fixes und Willkürliches »auswendig« gelernt werden muss. Wenn die kleinen Kinder Wörter nicht als »Vokabeln«, sondern als Worte, die Teil einer spannenden Sprachwelt sind, erleben, dann werden sie als Schüler später die eigentümliche Wahrheit und Schönheit der Sprache auskosten und in der Muttersprache wie in einer Fremdsprache tätig sein wollen.

Zum Autor:

Alec Templeton war an der Rudolf Steiner Schule Basel und ist Dozent an verschiedenen europäischen Waldorfseminaren.