Wiederholte Begrüßung

Henning Köhler

Der sanfte Wille versetzt Berge.

Liebe Eltern, wussten Sie, dass es die meisten Kinder ab dem 8., 9. Lebensjahr sehr lieben, wenn man ihnen von früher erzählt? Von ihren Eigenheiten in der Kleinkindzeit. Von der Art, wie sie sprechen lernten. Welche Worte sie zuerst sagen konnten. Wie und womit sie am liebsten spielten. Welche Verse und Geschichten ihnen am besten gefielen und welche originellen Bemerkungen sie dazu machten. Wogegen sie sich ohne erfindliche Gründe mit Händen und Füßen sträubten. Was ihnen große Angst einjagte. Von Krankheiten, Kümmernissen, Tollpatschigkeiten und plötzlichen, erstaunlichen Entwicklungsschritten. Wie es bei ihrer Geburt zuging. Wie Mutter und Vater einander kennen lernten ... Nehmen Sie sich ein oder zwei Mal in der Woche regelmäßig ein halbes Stündchen Zeit, um von früher zu erzählen … bildhaft, unaufgeregt und bitte ohne das Geschehene zu bewerten! Man kann dabei auch Fotos anschauen. Oder Bilder vom Dachboden holen, die das Kind damals malte. Sie werden sehen: Dieses Ritual hat eine erstaunliche Wirkung. Es empfiehlt sich gerade in schwierigen Phasen.

Wann haben Sie Ihr Kind zuletzt wirklich angesehen, seinen Blick erwidert und sich berühren lassen von dem Unergründlichen, das aus diesen – und nur diesen – Kinderaugen spricht? Wann haben Sie zuletzt innegehalten, wenn Sie Ihr Kind sprechen hörten, und lauschend hingefühlt zu dem unverwechselbar Eigentümlichen dieser Sprachmelodie, Sprachmodulation? Ein Wunder …

Wann haben Sie zuletzt für Ihr Kind eine Geschichte erfunden? Es ist gar nicht so schwer. Sie kreieren eine kleine Hauptfigur, von der Sie meinen, das Kind werde sich gern mit ihr identifizieren. Und nun lassen Sie diese Gestalt allerlei Abenteuer und Prüfungen erleben. Wetten, Ihr Kind wird nach mehr verlangen? Vielleicht entsteht nun eine Endlos-Fortsetzungsgeschichte. Das sind wahre Geschenke!

Liebe Mütter, wandern Sie gelegentlich in Gedanken zurück zur Stunde der Geburt des Kindes, zu den ersten Stunden und Tagen danach. Sie waren vermutlich hin und her gerissen zwischen Glücksgefühlen und Niedergeschlagenheit, Erleichterung und unsäglicher Erschöpfung, vielleicht auch zwischen Liebe und Ablehnung (Letzteres kommt oft vor und ist kein Grund für Schuldgefühle). Aber da gab es noch etwas anderes: Momente, in denen Sie nur von einem großen Erstaunen erfüllt, zutiefst verwundert waren. Es kam Ihnen so vor, als träumten Sie, als sei das alles gar nicht möglich. Auf einmal war dieses Menschlein da! Vom Himmel gefallen in Ihre geöffneten Arme! Dieses bei aller Vertrautheit doch so fremde, verwetterte kleine Gesicht! Wissen Sie noch?

Spüren Sie diese Momente des fassungslosen Staunens in der Erinnerung auf. Es gibt Zeiten im Leben mit Kindern, da muss die erste Begrüßung wiederholt und bekräftigt werden.