»Wir brauchen eine Komplett-Reform der Erziehungs-Landschaft«

Karin Michael, Tomáš Zdražil

»Wir befinden uns in einer globalen psychischen Gesundheitskrise!«, so die Organisation Save the Children zum 8. Oktober, dem Tag der psychischen Gesundheit. Die Corona-Krise wird nicht nur wegen der Covid-19-Infektionskrankheit in die Geschichte eingehen, sondern auch wegen der Folgen der ergriffenen Maßnahmen für die junge Generation. So hieß es auf der Titelseite des Deutschen Ärzteblattes am 1. Oktober 2021 »Coronapandemie – Das stille Leiden der Kinder und Jugendlichen«. »Still« sollte es aber vor allem nicht mehr dort bleiben, wo man Ideen und Taten zum Schutz, zur Stärkung und Stabilisierung der Jüngsten in unserer Gesellschaft erwarten würde. 

Die alarmierende Situation führte bereits im März dieses Jahres dazu, dass sich an der Freien Hochschule Stuttgart eine initiative Gruppe von Ärzten und Pädagogen zu einem Runden Tisch von Medizin und Pädagogik versammelte, um zu beraten und Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln. Einige Aktivitäten konnten inzwischen gestartet werden. Zum einen wurde eine Umfrage bei Eltern von Waldorfschülern durchgeführt (ElKiCor-Studie), um zu erfahren, welche Wahrnehmungen und Einschätzungen bei den Waldorffamilien und den Waldorfschülern zur Corona-Zeit vorliegen, welche Erfahrungen mit den Waldorfschulen gemacht wurden und welche Bedürfnisse und Wünsche erfüllt wurden oder nicht. Zum anderen ist ein Von-Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik an der Freien Hochschule Stuttgart mit dem Ziel entstanden, die gesundheitsfördernden Aktivitäten und Projekte der Kindergärten und Schulen zu sammeln, zu dokumentieren, sichtbar zu machen und zu vernetzen. Ein latentes Thema der letzten Monate ist die pädagogische Krisenintervention, ein Spezialfeld des Parzivalzentrums Karlsruhe.

Am 4. Oktober wurde der Runde Tisch erneut einberufen, um über diese Aktivitäten, die aktuelle Lage der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklungen an unseren Einrichtungen in einen Austausch zu kommen. Besonders erfreulich war, dass auch Pädagoginnen aus nicht-waldorfpädagogischen Einrichtungen an ihm teilgenommen haben.

Aus ihrer kinderärztlichen Sprechstunde schilderte Karin Michael beispielhaft die erschütternden Einzelschicksale von zwei Jugendlichen während der Corona-Krise. Schnell zeigte sich im Gespräch am Runden Tisch, wie ausschlaggebend für das Wohlbefinden der Kinder das soziale Klima der pädagogischen Einrichtung ist. Wie helfen wir uns gegenseitig, unsere Ängste – sei es vor der Infektion, vor Demokratieverlust oder anderen Gefahren – aufzulösen und ein offenes Gesprächsklima, Vertrauen und Engagement in den Kollegien zu entwickeln. Philipp Reubke von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum berichtete aus der internationalen Kindergartenbewegung. Im internationalen Vergleich falle ihm auf, dass doch die sogenannten Schutz-Maßnahmen auf den deutschen Kindergärten relativ schwer lasten. In den meisten anderen Ländern führe ihre Umsetzung weniger zu einer bedrückten Stimmung. Er forderte, dass das freie Spielverhalten der Kinder auch frei von »neuen« Regeln gehalten werden sollte. Die Wiederherstellung der sozialen Basis für die Zusammenarbeit stelle eine große Aufgabe der Zukunft dar. Nach Kinderarzt Georg Soldner von der Medizinischen Sektion am Goetheanum habe die Corona-Situation die bisherigen Schwächen unserer Einrichtungen offengelegt und die drängenden Aufgaben der Schule deutlich gemacht. Jan Vagedes, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin und wissenschaftlicher Leiter des Arcim-Instituts an der Filderklinik stellte die erwähnte ElKiCor-Studie vor, die in Zusammenarbeit mit der Freien Hochschule Stuttgart und der Universität Witten-Herdecke entstanden ist. Die Fragen wurden weitgehend aus dem Fragebogen der COPSY-Studie (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) übernommen. 484 von Waldorf-Eltern ausgefüllte Fragebögen wurden ausgewertet. Dabei wurden erhebliche Unterschiede festgestellt in der Art, wie die Waldorfeltern die Corona-Zeit erfahren und welche Schlussfolgerungen sie daraus gezogen haben.

Tomáš Zdražil von der Freien Hochschule Stuttgart berichtete über das neue Von-Tessin-Zentrum für Gesundheit und Pädagogik. Es möchte eine Plattform für alle pädagogischen Projekte schaffen, die die Kindergesundheit stärken, Best-Pratice-Beispiele vorstellen und Information und Beratung für Familien bieten. Mit Karin Michael, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, werden zur Zeit die Grundsteine des Zentrums gelegt.

Bernd Ruf vom Parzival Zentrum Karlsruhe sprach in seinem Beitrag von den Einsätzen und Möglichkeiten der Notfallpädagogik als einer sekundären Präventionsmaßnahme unmittelbar nach einem Schock oder Trauma und der Traumapädagogik als einer tertiären Präventionsmaßnahme, um mit den Folgestörungen eines Traumas fertig zu werden. Eine Initiativgruppe hat sich gebildet, die die Gründung eines überregional tätigen krisenpädagogischen Interventionszentrums in Angriff nimmt.

Georg Soldner schloss den Tag mit einem weitsichtigen, radikalen und gleichzeitig realistischen Blick auf unsere mittel- und langfristigen Ziele ab. Einige Zitate sollen lapidar die Brisanz der Thematik verdeutlichen: »Die DNA der Waldorfschule ist Gesundheitsförderung! … Wir brauchen eine Komplett-Reform der Erziehungs-Landschaft … Erste Hilfe-Mentalität hilft nicht mehr … Die Schule ist die zentrale Institution der öffentlichen Volksgesundheit … Wir müssen die pädagogische Krise mit der gesamtgesellschaftlichen Krise verbinden.«

Der Runde Tisch bildet die Basis für den Beirat des Von-Tessin-Zentrums für Gesundheit und Pädagogik, der zweimal jährlich zusammenkommen wird.

Zu den Autoren: Dr. Karin Michael ist Oberärztin in der Kinderambulanz am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke sowie Kindergarten- und Schulärztin. Dr. Tomáš Zdražil ist Professor an der Freien Hochschule Stuttgart.