Wir brauchen keine Brävlinge

Erziehungskunst | Was unterscheidet Konditionierung von Erziehung? Eine gute Kondition zu haben, heißt ja im physisch positiven Sinne, körperlich, mit seinen Muskeln etwas leisten zu können; gilt es nicht, auch »Seelenmuskeln« auszubilden?

Henning Köhler | Konditionierung ist laut DUDEN »das Ausbilden bedingter Reaktionen bei Mensch oder Tier«. Beim »operanten Konditionieren« geht es darum, erwünschtes Verhalten durch sogenannte positive oder negative Verstärker – Lob und Tadel, Belohnung und Strafe – zu automatisieren. Das ist eine vornehme Umschreibung von Dressur. Die Frage lautet also, was Erziehung von Dressur unterscheidet. Ich sage mal provokativ: prinzipiell nichts. Wer gegen Dressur ist, müsste konsequenterweise auch gegen Erziehung sein.

EK | Es gibt also keine Erziehung, die nicht auf Dressur hinausliefe?

HK | Erziehung bedeutet per definitionem, Kindern erwünschte Verhaltensweisen anzutrainieren und unerwünschte abzugewöhnen. Das geht nicht ohne eine Art von Einflussnahme, die Gehorsam honoriert und Ungehorsam sanktioniert. So gesehen dressieren wir ständig, jedes Lob ist Dressur. Dennoch erkennt man einen guten Pädagogen daran, dass er sich bei diesem Vorgehen schlecht fühlt und nach Möglichkeit darauf verzichten will. Denn dahinter steckt ein Modell vom Menschen als einer Reiz-Reaktions-Maschine. Diese Sichtweise zu überwinden, war das zentrale Anliegen Rudolf Steiners. In seiner Ansprache am Vorabend des Kurses Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik wandte er sich vehement dagegen, »den Menschen [zu] behandeln wie einen Gegenstand, der an Drähten gezogen werden muss«. Im sogenannten pädagogischen Jugendkurs sagte er, man müsse sich eigentlich schämen, das Wort Erziehung in den Mund zu nehmen. Was die »gute Kondition« betrifft, ziehen wir nochmals den DUDEN zu Rate. Kondition wird dort definiert als »seelisch-körperliche Gesamtverfassung eines Menschen«. Man muss den Begriff also nicht sportiv auslegen. »Gute Kondition« bedeutet schlicht Gesundheit. Rudolf Steiner brachte die Pädagogik ausdrücklich mit Gesundheitsvorsorge und Gesundheitspflege in Verbindung. Durch Dressurpädagogik erreichen wir aber das Gegenteil.

EK | Warum macht eine solche Erziehung krank?

HK | Menschen, die als Kinder erleben mussten, dass ihr Eigenwille ständig missachtet wurde, tragen ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Angsterkrankungen. Die systematische Unterbindung von Selbstwirksamkeit ist ganz konkret gesundheitsschädlich, zieht das Immunsystem in Mitleidenschaft. Außerdem erschwert diktatorische Erziehung die Entwicklung einer moralischen Identität, darüber herrscht heute unter Psychologen weitgehend Einigkeit. Rudolf Steiner wusste schon, warum er keine »Brävlinge« in der Waldorfschule wollte. Allerdings ist es auch nicht gerade moralbildend, wenn man den Kindern alles durchgehen lässt.

EK | Kulturanthropologisch betrachtet konditionieren Naturvölker ihren Nachwuchs nach festen Ritualen. Was unterscheidet diese Vorgehensweise von unserem preußisch geprägten Schulsystem?

HK | In archaischen Kulturen gab und gibt es sehr unterschiedliche Gepflogenheiten des Umgangs mit Kindern. Für jede pädagogische Gesinnung lassen sich »natürliche« Vorbilder finden. Tatsächlich unterlag das Leben der meisten Naturvölker strengen Regeln, gemeinschaftsbildende – meist religiöse – Rituale spielten eine große Rolle, und die Kinder waren mittendrin. Aber sie wurden nicht aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und im Stundentakt nach normierten Lehrplänen zwangsunterrichtet. Das ist der Unterschied.

EK | Auch wenn wir zwischen Erziehung und Pädagogik unterscheiden, erhebt sich die Frage, ob Pädagogik nicht zwangsläufig normativ ist in dem Sinn, dass sie auf bestehende Normen oder Werte hin »konditioniert«.

HK | Das ist die gängige Auffassung. Seit Jahrhunderten dreht sich der erziehungswissenschaftliche Diskurs zu 90 Prozent um die Frage, wie man Kinder möglichst geschickt und effizient dahingehend manipulieren kann, dass sie in den bestehenden Verhältnissen funktionieren. Max Stirner veröffentlichte dazu schon 1842 ein bemerkenswertes Büchlein: »Das unwahre Prinzip der Erziehung«. Etwas Besseres sei nie über Pädagogik geschrieben worden, sagte Rudolf Steiner. Max Stirner war ein radikal freiheitlicher Denker. Steiner auch. – Alle Despoten träumen davon, ihre Untertanen auf bestehende Normen und Werte hin zu konditionieren und schon bei den Kindern damit zu beginnen. In Erziehungsdiktaturen wird das Sozialisationsparadigma auf die Spitze getrieben.

Dahinter steckt der unbewusste Beweggrund, die Bewusstseinsentwicklung zu beenden. Auch in seinen subtileren Varianten hat das Sozialisationsparadigma einen totalitären und somit anti-evolutionären Grundzug. Selbst wenn es sich um gute Normen und Werte handelt: Sie Kindern aufzuzwingen, bedeutet, ihnen die Möglichkeit der freien Wahl für das Gute zu versperren. Deshalb wandte sich Steiner, vor allem in seinen Schriften und Vorträgen zur sozialen Frage, vehement gegen die Vorstellung, es ginge in der Pädagogik darum, Kinder für den gesellschaftlichen Bedarf zuzurichten.

EK | Gibt es nicht doch »Konditionierungen«, die sinnvoll sind, zum Beispiel Höflichkeit, ein gewisses Maß an Disziplin, Tischmanieren usw.?

HK | Jeder Schurke kann, wenn er will, überaus höflich sein und sich bei Tisch tadellos benehmen. Vielleicht ist er obendrein sehr diszipliniert. Das sind keine Werte an sich. Ein Wert an sich ist es, anderen Menschen mit Achtung zu begegnen, Rücksicht auf sie zu nehmen. Höflichkeit um der Etikette willen hat etwas Gruseliges. Höflichkeit als ehrliche, unverkrampfte Haltung des Respekts vor dem Gegenüber öffnet Herzen. Das Wort Höflichkeit passt hier eigentlich gar nicht. Kinder beobachten uns genau. Sie nehmen den Unterschied zwischen pflichtschuldigem Höflichkeitsgetue und einer Haltung, die echte Wertschätzung ausdrückt, sehr fein wahr. Der aufrichtig wertschätzende Gestus regt sie zur Nachahmung an, die Maskerade hingegen löst Irritationen und antipathische Reaktionen bei ihnen aus. Kinder auf Höflichkeit konditionieren zu wollen, heißt, sie in das Spiel der Täuschung hineinzutreiben. Mit den Tischmanieren verhält es sich ähnlich. »Gesittetes Verhalten bei Tisch« als hohles Ritual überzeugt die Kinder überhaupt nicht. Mit Recht, finde ich. Achtsamkeit im Umgang mit Speise und Trank als Grundhaltung, die Dankbarkeit ausdrückt, ist etwas ganz anderes. Es geht bei diesen Dingen nicht um Konditionierung, sondern um Glaubwürdigkeit. Im Übrigen bitte ich zu bedenken: Kinder sind Kinder. Keine kleinen Erwachsenen. Wenn Kinder nicht mehr unhöflich, unmanierlich und undiszipliniert sein dürften – das wäre ja furchtbar.

EK | Ohne ein gewisses Maß an Disziplin lässt sich aber kein geordneter Unterricht durchführen, sagen viele Lehrer.

HK | Ich würde hier nicht von Disziplin sprechen. Der Unterricht gelingt, wenn sich die Schülerinnen und Schüler in einer guten körperlichen und seelischen Verfassung befinden und Interesse an den Lerninhalten aufbringen. Aber auch dann sollte man es mit der Erwartung eines »geordneten« Unterrichts nicht übertreiben. Denn wie gesagt, Kinder sind Kinder. Wenn alles wie am Schnürchen laufen soll, muss Druck ausgeübt werden. Druck erzeugt Angst. Haben die Kinder Angst, erlischt ihr Interesse. Ein Teufelskreis. Ich weiß, wie schwer es unter den heutigen Bedingungen ist, hier eine Lösung zu finden. Aber kurzerhand über Disziplinlosigkeit zu klagen, verrät eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise.

EK | Müsste man nicht besser von Beziehungslehre als von Erziehungslehre, von Beziehungswissenschaft als von Erziehungswissenschaft sprechen?

HK | So ist es. In dem Vortragszyklus Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschen­­­erkenntnis sagte Steiner: »Man sollte eigentlich die pädagogische Frage im strengsten Sinn als eine soziale Frage betrachten«, das heißt, als eine Frage des gelingenden sozialen Miteinanders. Der Lehrer sei angehalten, ein tiefes Interesse für die individuellen Eigenschaften eines jeden Kindes zu entwickeln, fuhr Steiner fort. Dadurch erwache in den Kindern der Impuls zur allgemeinen Menschenliebe. Hier urstände alle Ethik. – Der größte Irrtum besteht darin, anzunehmen, man könne Kindern ethische Wertorientierungen antrainieren. Das tiefe Bedürfnis, sich auf die Seite des Guten zu schlagen, ist jedem Menschen angeboren. Wenn wir den Kindern jenes zur Liebe gesteigerte Interesse entgegenbringen, welches Steiner wieder und wieder als pädagogische Kardinaltugend anmahnte, bestärken wir sie in diesem Ur-Wunsch.

EK | Wenn Pädagogik nach Möglichkeit nicht konditionierend sein soll, welche Faktoren bestimmen dann die Entwicklung des Kindes?

HK | Die der Waldorfpädagogik zugrunde liegende Auffassung vom menschlichen Lebenslauf geht konsequent wie kein anderes Konzept davon aus, dass genetische Prädispositionen und psychosoziale Bedingungen keine harten Determinanten sind, sondern einen elastischen Rahmen abgeben, innerhalb dessen sich die Individualität gemäß ihrer eigenen inneren Regie entfalten will. Eine gezielt von außen formende Erziehung, die darauf angelegt ist, individuelle Unterschiede einzuebnen und Kinder »in Schablonen einzuspannen« (Steiner), kann das allerdings eminent erschweren. Viele Menschen erholen sich lebenslang nicht mehr ganz davon. – Wenn wir den Erziehungsbegriff überhaupt verwenden wollen, dann im Sinn von Selbsterziehung. Steiner wurde nicht müde, zu betonen: Das Kind erzieht sich selbst. Wir haben nur den Auftrag, dafür eine möglichst günstige Umgebung zu schaffen – und selbst diese Umgebung zu sein.

EK | Wo stehen wir heute in der Waldorfpädagogik, in den Kindergärten und Schulen, hinsichtlich unseres Anspruchs, die Individualität des Kindes zu achten und den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden?

HK | Ein Gesamturteil darüber steht mir nicht zu. Als frei praktizierender Heilpädagoge, der viele Waldorfschüler zu Gesicht bekommt, die als »schwierig« gelten, muss ich allerdings sagen: Was das Verständnis für kindliche Widerspenstigkeit und jugendliche Dissidenz angeht, bekleckern sich die meisten Waldorfschulen nicht gerade mit Ruhm. Ansonsten gibt es eine Reihe von Baustellen. Stichworte: Neue, offene Unterrichtsformen. Mehr Binnendifferenzierung. Raus in die Natur. Stärkere Betonung der Gemeinschaftsbildung. Konsequent die Kunst und das Handwerk in den Mittelpunkt stellen. Pädagogik als inneren Übungsweg begreifen. Aber auf dies alles näher einzugehen, würde hier zu weit führen. Ich habe in meinen Kolumnen viele entsprechende Hinweise gegeben.

EK | Der Begriff »Erziehungskunst«, also Erziehen als eine Kunst aufzufassen – wie ist er zu verstehen vor dem Hintergrund einer nicht-konditionierenden Haltung? Was kann künstlerisch sein am Erziehen?

HK | Steiner hat den Begriff »Erziehungskunst«, der eigentlich ein Widerspruch in sich ist, von Heinrich Pestalozzi entlehnt. Sagen wir lieber pädagogische Kunst. Das ist soziale Kunst, dialogische Kunst, Beziehungskunst. Man soll nur ja nicht glauben, Kinder seien leere Leinwände, welche wir zu bemalen hätten, oder so etwas. Das Kunstwerk ist Zwischen-uns-Raum. Frei nach Joseph Beuys: Es geht darum, eine soziale Wärmeplastik zu schaffen.

EK | Ein Motto der Waldorfpädagogik ist die »Erziehung zur Freiheit«. Kann man überhaupt zur Freiheit erziehen? Gemeint ist damit ja sicher nicht eine antiautoritäre oder Laissez-faire-Haltung. Welche Persönlichkeitsmerkmale setzt eine »Erziehung zur Freiheit« bei den Erziehenden voraus?

HK | Ich halte die Formulierung »Erziehung zur Freiheit« – nach dem Buch von Frans Carlgren – für problematisch. Erstens weil man niemanden zur Freiheit konditionieren kann, zweitens weil Freiheit aus sich selbst entsteht. Richtig müsste es heißen: Pädagogische Begleitung in Freiheit zur Freiheit. Ernst von Weizsäcker hat den wunderbaren Satz geprägt: »Freiheit ist ein kostbares Gut, das durch Gebrauch wächst und durch Nichtgebrauch dahinschwindet.« Rudolf Steiner sagte, mit jedem Kind komme ein »Rosenkeim der Freiheit« zur Welt. Ihn gelte es zu hegen und zu pflegen, auf dass er prachtvoll erblühe. Deshalb betrachten gute Pädagogen den Eigenwillen des Kindes als etwas Heiliges. Ich spreche jetzt nicht von emotionalen Stürmen, die das Kind mal dahin, mal dorthin reißen – auch sie sind wunderbar, aber auf eine andere Weise; auch ihnen sollte man mit Respekt begegnen –, sondern von den individuellen Besonderheiten der Willensentfaltung. Pädagogen, die gern auf der Machtebene agieren, haben den Beruf verfehlt. Wenn es unumgänglich ist, Zwang auszuüben, sollte man dies möglichst zurückhaltend tun, mit Zeichen des Bedauerns.

Kinder spüren den Unterschied zwischen autoritärem Gehabe und fürsorglicher Strenge. Aus waldorfpädagogischer Sicht ist gegen eine antiautoritäre Haltung gar nichts einzuwenden. Die von Steiner viel beschworene »geliebte Autorität« zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass ihr der autoritäre Gestus fremd ist.

Das ist alles leichter gesagt, als getan. Ich habe selbst alle Fehler, die hier anprangert werden, selbst begangen und begehe sie manchmal noch heute. Kinder lernen aus Fehlern, Pädagogen lernen aus Fehlern. Hauptsache, wir lernen.

Das Gespräch führte Mathias Maurer.