Wir sind Trevrizent!

Matthias Kirchhoff

Dies gilt nicht bloß für unsere Zeit: Der Professor für Literaturdidaktik Thomas Möbius hat eine Erhebung mittelalterlicher Texte erarbeitet, die seit 1836 in deutschen Schulbüchern vorkommen. Die Studie zeigt, dass das Nibelungenlied durchgängig in der Spitzengruppe vertreten war und ist, der Parzival aber deutlich dahinter liegt – mit weniger als einem Viertel der Einträge. Größere Unterrichtsmaterialien gibt es für den Parzival nicht, wofür es z.T. obskure Gründe gibt. So stammt der Parzival von einer französischen Vorlage ab, und das disqualifizierte ihn im 19. Jahrhundert als Träger nationaldeutscher Identität. Auch im heutigen Uni-Betrieb ist Wolframs Roman eher kein Gegenstand der Lehre. Zu komplex sind Sprache, Personal und Handlungsverlauf, um damit Germanistikstudierende zu befrachten. Das »Nibelungenlied« ist dagegen im Hörsaal nach wie vor ein Magnet. Dabei war der Parzival – ausweislich der erhaltenen Handschriften – der erfolgreichste deutsche Roman des Mittelalters.

Der Mix aus Abenteuerfahrt, Selbstsuche, Bildungsroman, Liebesgeschichte, Action und Mystik würde auch heute zum Bestseller taugen. Ich habe in der letzten Parzival-Epoche diese Erfolgsfaktoren neben das Profil von Harry Potter gehalten. Die Schüler kamen zu dem Befund, dass sich das Grundmuster erfolgreicher Literatur in 800 Jahren kaum verändert habe. Auch ist der Parzival nicht strophisch gedichtet wie das Nibelungenlied und hat einen Protagonisten, mit dem man sich besser identifizieren kann als mit Kriemhild, Hagen oder Siegfried. Gute Bedingungen also für eine spannende Lektüre – und dennoch hat der Parzival zwar den Weg zur Gralsburg, aber nie wirklich in die (Staats-) Schule gefunden.

Ist es daher nicht verdächtig, dass an Waldorfschulen die Elftklässler über Wochen jeden Morgen fast zwei Stunden lang einen Text bearbeiten, um den die Regelschulen einen Bogen machen und an den sich an der Univer­sität erst die Experten wagen? Ein Beweis von Esoterik und Selbstüberschätzung?

Die Frage ist so natürlich falsch gestellt! Ich möchte darstellen, dass der Parzival für das Anliegen, wie und warum an Waldorfschulen (Deutsch-)Unterricht betrieben wird, genau der richtige Lernstoff ist. Mit gleichem Recht ist er für die staatlichen Schulen kaum geeignet. Der »Parzival« soll damit als ein Alleinstellungsmerkmal profiliert werden, auf das man von Seiten der Waldorfschulen stolz sein kann – sofern man Gründe kennt, warum Siebzehnjährige einen gut achthundert Jahre alten Roman lesen sollen. Und einige will ich nennen! Die Grundvoraussetzungen der Regelschule sind v.a. in zwei Punkten so verschieden von denen an Waldorfschulen, dass der Parzival zu der ersteren nicht passt und zur zweiten umso besser. Der eine Punkt ist die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit, der andere die zugrunde liegende Bildungsidee.

Was die Zeit betrifft, so wird in keinem jüngeren Schulbuch für mittelalterliche Literatur ein Pensum veranschlagt, das mehr als wenige Unterrichtsstunden umfasst. Dies reduziert mittelalterliche Texte auf Ausschnitte oder Einzelgedichte. So kann man in wenigen Einheiten Minnelieder besprechen, und auch das »Nibelungenlied« lässt sich dank seiner plakativen Zentralszenen im Spurt drannehmen. Der Parzival verschließt sich hingegen der Filetierbarkeit. Rund um Parzival ergibt sich ein Netzwerk verwandter Figuren, und statt der Szenenfolge des »Nibelungenliedes« bietet Wolframs Epos ein eher lockeres Gefüge hochkomplexer Situationen, welche erst im Nachhinein einen Zusammenhang zeigen. Kurzum, der »Parzival« lässt sich nicht auf wenige Unterrichtsstunden zusammenkochen, sondern gewinnt seinen Zauber erst durch umfängliche Betrachtung. Und dafür hat die Waldorfschule ein Format – den Hauptunterricht – und die Regelschule nicht!

Was das Bild vom Unterricht betrifft: Parzival ist fast den ganzen Roman über »Schüler«, und die meisten seiner »Lektionen« scheitern kläglich: Die Ratschläge der Mutter Herzeloyde führen ihn zu seinem ersten Verbrechen, der Vergewaltigung Jeschutes, weil er blind diese Anweisungen befolgt. Die Lehren des Gurnemanz, die Parzival zum Ritter machen, sind zwar praktisch hochwertig; Fragen ist aber unerwünscht (irn sult niht vil gevrâgen, 171,17) – und so versäumt Parzival die erste Erlösungsfrage. Beide Male ist Parzival unmündiger Empfänger von Direktiven, und dies bringt ihn in Schuld und Verzweiflung. Erst Trevrizent, der ihm im Diskurs auf Augenhöhe begegnet, schafft es, Parzival mit Gott, der Welt und seiner Bestimmung – der Gralsherrschaft – zu versöhnen. Er teilt seine Klause mit dem Gast, nimmt Teil an dessen Schicksal, diskutiert mit ihm und erzählt von eigenen Erfahrungen.

Jeder, der Unterrichtsentwürfe staatlicher Referendare kennt, weiß, dass solches Sich-Zeit-Nehmen und In-Austausch-Treten nicht das ist, worauf es dort ankommt. Buchstäblich minutiös wird aufgeführt, wann was in welchem Medium zu erfolgen hat; Unterrichtsgespräche sind getaktet – weder intelligente Fragen noch Zweifel sind über ein gewisses Maß hinaus vorgesehen. Noch weniger werden Schüler als gleichgeordnete Diskutanten verstanden. Es ist also auch von der Handlungsseite des Parzival her nicht verwunderlich, dass die Regelschule einem Erzählstoff, der zeigt, dass autoritäre Lehre scheitert, keinen großen Raum einräumen will.

Eine Parzival-Epoche dauert hingegen in der Regel fünfzehnmal rund 100 Minuten und bietet damit viel Zeit, im Miteinander zentrale Fragen des Textes zu erörtern.

So gesehen operiert die Regelschule wie Gurnemanz: Der Unterricht ist durchaus effizient und zielgerichtet, er ist eher als kommunikative Einbahnstraße konzipiert und sieht Fragen kaum vor. Der Waldorfunterricht ist hingegen ähnlich dem des Einsiedlers Trevrizent: Im optimalen Fall sind die Schüler suchende Parzivale, die im Austausch auf Augenhöhe ihrer Bestimmung näherkommen. Nur dass dies nicht mehr in der weltfernen Klause, sondern in bunten Waldorf-Wänden stattfindet – und eben fast nur dort!

Doch welche Themen könnten es sein, die man in der Einsiedlerklause des Klassenzimmers erschließt? Die Suche nach Gott oder die Geheimnisse der Gralsburg, welche Trevrizent mit Parzival bespricht, können – metaphorisch oder nicht – Inhalte sein; sie sind aber womöglich für heutige Elftklässler doch nur bedingt geeignet. Was also dann? Es würde nicht nur dem Gesagten, sondern – mehr noch – der Vielfalt des Parzival widersprechen, wenn ich hier einen starren Kanon von Thematiken anführte. Von daher ist das Folgende nur ein Vorschlag, der dem Lehrer ohnehin nicht den Blick abnehmen kann, was zur Klasse passt. Immerhin sitzen in der Klause bis zu drei Dutzend zukünftige Gralskönige. So mag man sich von eigenen Stärken leiten lassen: Wer sich für Astronomie interessiert, wird im »Parzival« üppig fündig werden. Wer einen Akzent auf Film oder Theater setzen möchte, kann die »dramatisch« beschriebene zweite Erlösungsfrage inszenieren, und wer bildende Kunst schätzt, kann die Gralsbotin Cundry gestalten lassen.

Wenn man stärker ethisch fundierte Themen betrachten möchte (und darum geht es im Parzival wohl vor allem), können folgende Aspekte die Schüler stark an- und aufregen:

Die Frage nach dem Menschenbild

Wolfram entwickelt am Bild der schwarz-weißen Elster die Idee, dem Menschen böte sich neben den Alternativen Gut und Böse auch die Möglichkeit der Mischung aus beidem. Ein gemischter Mensch sei noch nicht verloren, was an Parzival gezeigt wird. Gegenstand der Diskussion kann sein, ob die Kategorien »Gut« und »Böse« für Schüler noch Relevanz haben und welche Missbrauchsmöglichkeiten solches »Schwarzweiß-Denken« eröffnet; ferner, ob Religion immer noch ein Leitbild geben kann und wie es sich mit dem »freien Willen« verhält, den es zur Entscheidung braucht.

Die Frage nach Rollenverhalten

Am Ende des zweiten Buches stellt sich Wolfram selbstbewusst als Experten im Frauendienst dar. Dabei wertet er sein Dichter- gegen sein Rittertum ab. Der Schüler Timon schreibt: »Wolfram ist als edler, starker und mutiger Ritter dargestellt (…). Es wird also besonders seine Stärke hervorgehoben, weniger seine literarischen und intellektuellen Tugenden. Es wird das Bild eines Kämpfers aufgezeigt, der Wolfram von Eschenbach vielleicht auch war, aber der Gelehrte bleibt etwas außen vor.« Im Unterricht ist es ergiebig, zu erarbeiten, dass hier eher eine Kunstfigur konstruiert als die Realität dargestellt wird. Dies lässt sich neben die Rollenbilder z.B. heutiger Rapper halten – was nicht nur manche Schüler interessiert, die man mit mittelalterlicher Literatur nur schwer erreicht, sondern auch die Reflexion darauf ermöglicht, inwiefern wohl jeder Mensch ein »Rollenspieler« ist.

Die Frage nach der Schuld Parzivals

Parzival wird, indem er treudoof den Anweisungen seiner Mutter und der Artusgesellschaft folgt, zum Vergewaltiger und Totschläger. Doch ist das seine Schuld? Wie sollte man diese sanktionieren? Was bedeutet »Schuld«? Und darf jemand mit Parzivals Vorgeschichte noch Gralskönig werden? Hier gehen die Meinungen auseinander. Hanna S. schreibt: »Ich finde, er kann sich durch seine Unwissenheit nicht rausreden. Die Frau wollte dies nicht und hat es ihm auch deutlich gezeigt und gesagt, so hat er ein Verbrechen begangen.« Ihr Mitschüler Augustin hält dagegen ein umfassendes Plädoyer für Parzival, indem er ihn aufgrund von Bewusstseinsstörung und Schwachsinn für schuldunfähig erklärt und eine Seelenstörung durch Isolation und traumatische Mutterbindung attestiert.

Die Frage nach Identität

Nachdem Parzival mit seinem Halbbruder Feirefiz gekämpft hat und beide ihre Identität erkannt haben, sagt Feirefiz: »Mit dir selben hâstu hie gestritn« (752, 15). Was heißt das? Ist es nur Sympathiebekundung? Behauptet Feirefiz, sie seien wirklich identisch oder sogar ein Körper? Meint er, dass Parzivals Weg ein steter Kampf gegen sich selbst gewesen sei? So versteht es z.B. Smilla: »Ich denke, Feirefiz hat damit seine [Parzivals] komplette Laufbahn gemeint. Parzival wollte immer weiter über sich hinauswachsen und auch dafür kämpfen, nur hat er nicht für sich, sondern die ganze Zeit gegen sich selbst gekämpft.« Der Begriff »Identität« lässt sich dabei lange diskutieren, denn er ist hier sehr gut in seiner Doppeldeutigkeit zu erkennen: Im Aspekt der äußeren Gleichheit, aber auch darin, was den Menschen einzig macht.

Die Frage nach Empathie

Trevrizent nennt Parzival die Erlösungsfrage, die er Anfortas stellen soll – doch als Parzival dem Gralskönig begegnet, formuliert er sie anders: Worin besteht der Unterschied zwischen: »herre, wie stât iuwer nôt?« (484,27) und »œheim, waz wirret dir?« (795, 29)? Die familiäre gegenüber der ständischen Anrede, das Duzen gegenüber dem Siezen machen aus dem scheinbar gleichen Satz einen anderen, intensiveren. So löst sich Parzival vom Nachplappern, als es auf Empathie ankommt. Die Diskussion über den Stellenwert von Empathie und Wortfeinheiten lässt sich damit leicht eröffnen.

Dieser Höhe- und Endpunkt des Parzival zeigt den Schülern damit, worauf es im Literaturunterricht v.a. ankommt: Das Erkennen und Interpretieren von Grundzügen und Details, deren Verständnis den Blick auf Fragen des Lebens weitet.

Zum Autor: Dr. Matthias Kirchhoff ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der FWS Backnang und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart.