»Wir wollen keine Duckmäuser«. Gemeinwohl macht Schule

Birgit Brauburger

Eigensinn und Querdenken sind gefragt. Bei der Bildung darf es nicht nur darum gehen, Schüler effizient auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten und ihnen instrumentelle Fertigkeiten zu vermitteln. Im Mittelpunkt soll, wo immer möglich, die Individualität des Einzelnen stehen – und seine Befähigung zu selbstständigem Denken und Handeln.

Wer aufmerksam auf die Welt blickt, sieht: Mehr denn je kommt es bereits jetzt auf soziale Kompetenz, Kreativität, Eigen-Sinn und die Fähigkeit zum Querdenken an. Kinder und Jugendliche mit hoher Partizipations- und Gestaltungskompetenz auszustatten, darf also als eine der Aufgaben zukunftsfähiger Bildung gelten. Auswendiglernen und Reproduzieren sowie die Konzentration auf reine Lese-, Schreib- und Rechenkompetenzen greifen da zu kurz. Rudolf Steiner schrieb der Waldorfpädagogik ins Stammbuch: »Nicht gefragt werden soll: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht, sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden.«

Die sieben Grundinhalte der Gemeinwohlökonomie

Die wichtigste Aufgabe von Schule heute ist laut Christian Felber, dem Autor und Mit-Initiator der Gemeinwohl-Ökonomie, ganzheitliche, sozial kompetente, ethisch reflektierte und emotional souveräne Menschen auszubilden – und eben »nicht angepasste, unfreie Duckmäuser, nicht anerkennungsheischende Leistungskanonen, nicht funktionale Rädchen für den globalen Kapitalismus«. Damit Menschen sich frei entfalten, ihre Talente nach ihren Werten und Zielen einsetzen und ihre Lebensentwürfe kreativ umsetzen können, schlägt die Gemeinwohl-Ökonomie (unabhängig von der Bilanz) sieben Grundinhalte der schulischen Begleitung vor: Gefühlskunde, Kommunikationskunde, Wertekunde, Demokratiekunde, Körpersensibilisierung, Naturerfahrung und Kunsthandwerk. Die Parallelen zum Fächerkanon der Waldorfschule sind augenfällig. Das Projekt Gemeinwohl-Ökonomie war in den seit 2016 laufenden Schulentwicklungs- prozess »Projekt Zukunft« eingebunden. Unsere Zielsetzung war und ist es, die pädagogischen Impulse Rudolf Steiners neu aufzunehmen und zu gestalten. Wir suchen neue Wege, um den Kindern und Jugendlichen von heute gerecht werden, um sie in ihrem ganzen Wesen wahrnehmen und sie auf ihrem Weg auf allen Ebenen begleiten und stärken zu können, damit sie ihre Potenziale entfalten können.

Ziel ist der schöpferische Umgang mit der Welt

Das Bildungskonzept der Waldorfpädagogik führt kognitive, künstlerische und handwerklich-praktische Unterrichtsangebote zusammen und zielt auf Lernprozesse ab, die einen schöpferischen Umgang mit der Welt vermitteln. Es will im Kern Selbstständigkeit veranlagen und vor allem die Fähigkeit, den eigenen Platz in der Welt zu finden. Es ist unbestritten, dass der Freiraum dieses pädagogischen Konzepts bei den Abschlüssen durch staatliche Vorgaben eingeschränkt ist, was sich in den höheren Klassen zwangsläufig auf den Unterricht auswirkt. Und so bleibt ein Spagat zwischen dem Lehrplan des Hessischen Kultusministeriums für die Gymnasiale Oberstufe und dem Waldorflehrplan, der vielfältige Spielräume in der Vermittlung des passenden Stoffes bietet. Gleichwohl arbeiten wir derzeit intensiv an Konzepten, um die Besonderheiten der einzelnen Jahrgangsstufen noch besser greifen und ihnen gerecht werden zu können.

Positiv in der Gemeinwohlbilanz wurde bewertet, dass der Leistungsgedanke zumindest bis zur 9. Klasse zurücksteht, stattdessen das Lernen im gegenseitigen Miteinander und das damit verbundene Einüben sozialer Kompetenzen gestärkt wird. Die Kultur der Schule ist insbesondere in dieser Zeit geprägt vom anthroposophischen Menschenbild und beruht auf Selbstorganisation und Eigenverantwortung.

Eine Schule ist kein reines Dienstleistungsunternehmen

Zwar stießen wir beim Schreiben unseres Gemeinwohl-Berichts immer wieder auch an Grenzen, zumindest begrifflicher Natur. Denn die ihm zugrunde liegenden Fragen richten sich bislang an dienstleistende und produzierende Unternehmen. Doch ebenso wie die Freie Waldorfschule Freiburg-Rieselfeld haben wir nun als »Pionierschule« mit unseren Anmerkungen und Hinweisen einen Beitrag dazu leisten können, dass die Idee der Gemeinwohlbilanz künftig leichter auch auf andere Bildungseinrichtungen übertragen werden kann.

Die Regeln der Ökonomie jedenfalls dürfen pädagogische Prozesse nicht bestimmen, Schulen können nicht als reine Dienstleistungsunternehmen verstanden werden, die um Kunden (Eltern und Schüler) wetteifern. Denn Bildung und Persönlichkeitsentwicklung sind mehr als die Summe messbarer Lernergebnisse, mehr als die Tauschbeziehung Geld gegen Dienstleistung. Unter Wertschöpfung darf in einer Schule etwas anders verstanden werden als in einem produzierenden Unternehmen. – Doch wie ist sie messbar?

Das Gemeinwohl-Potenzial liegt in der Gestaltung des Bildungsweges

Schulabschlüsse oder benotete Zwischenleistungen, verstanden als messbares Teil-Produkt einer »Bildungs-Dienstleistung«, zeigen allenfalls, dass bestimmte Befähigungen zu einer gewissen Reife gelangt sind – greifen aber zu kurz.

Der Grundgedanke der Gemeinwohl-Ökonomie passt wunderbar zu anthroposophisch impulsierten Einrichtungen. Gleichwohl haben wir es mit einem Modell zu tun, das den Nutzen und insbesondere das Wirkungspotenzial ganzheitlicher Bildung bislang nicht erfassen kann und darauf auch noch gar nicht ausgelegt ist.

Das im Laufe der Schulzeit Angelegte zeigt sich erst zu einem späteren Zeitpunkt: im Tätigwerden in der Welt, der persönlichen Haltung und im Ergreifen von Gestaltungsmöglichkeiten. Wann, liegt am und vor allem im Einzelnen. So bleibt es eine der Fragen an die Weiterentwicklung der Gemeinwohl-Matrix, ob und wie sich lebendige Prozesse in Abhängigkeit von Individualität überhaupt abbilden lassen können.

Das wohl größte Gemeinwohl-Potenzial einer Bildungseinrichtung liegt im Gestalten und Begleiten des Bildungsweges selbst. Unsere Arbeit zeigte, dass das der Bilanz zugrunde liegende Gewichtungsschema dies bislang nicht abbildet. Deshalb sollte es geändert werden.

Offen für Weiterentwicklung

Die Gemeinwohl-Ökonomie versteht sich als offenes Konzept, das dazu einlädt, eigene, weiterführende Ansätze zu entwickeln und Anregungen an die Initiative zu geben. Würden eine eigene Begriffswelt und passende Indikatoren für Organisationen geschaffen, die sich der Menschenbildung und -begleitung verschrieben haben, würde das eine neue Dimension eröffnen.

Ein Widerspruch aber bleibt: Ein pädagogisches Konzept, das auf Entfaltung von Individualität zielt, kann nur sehr bedingt anhand eines standardisierten Verfahrens bewertet werden. Die Schule als Organisation jedoch kann in der Auseinandersetzung mit der GWÖ an vielen Stellen das eigene Selbst-Bewusstsein schärfen und Impulse für Weiterentwicklung gewinnen.

Die Frage, wie eine »Gemeinwohl-Schule« aussehen könnte, will künftig der »Akteurskreis Bildung« mit Interessierten bewegen, inspiriert unter anderem von freien, alternativen und reformpädagogischen Schulen. Zwei Aspekte werden dabei immer deutlicher: Bildung muss erstens ganzheitlich betrachtet, und zweitens Lernen als ein individualisierter, selbstbestimmter, alltagsbezogener und möglichst bewertungsfreier Vorgang begriffen werden. Denn Bildung, die sich erlaubt, auf Interessen und Talente zu blicken, ist weit mehr als die Vorbereitung auf die unmittelbare Verwertung des Erlernten. Sie macht nicht bloß »fit für die Zukunft« und das, was als Anforderung der Märkte gesehen wird, sondern legt das Fundament für ein gelingendes Leben.

Zur Autorin: Birgit Brauburger ist Mitglied des Gemeinwohl-Projektteams und Mutter an der FWS Wetterau. Darüber hinaus begleitet sie die Schule im Schulentwicklungsprozess und ist als Coach für Potenzialentfaltung tätig.