Wissenschaftlichkeit und Waldorfpädagogik

Henning Kullak-Ublick

Andreas Neider | Die Lehrerausbildung der Waldorfschulen wird anlässlich des Jubiläumsjahres verstärkt kritisiert. Der Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich wirft Rudolf Steiner und auch den Ausbildungsstätten für Waldorflehrer einen Rückfall hinter heutige wissenschaftliche Standards vor. Weshalb liegt er falsch?

Henning Kullak-Ublick | Ullrich argumentiert aus der Perspektive des akademischen Mainstreams, der die Weltanschauung des materialistischen Positivismus für maßgeblich hält. Er bedenkt nicht, dass diese Weltanschauung heute mit wissenschaftstheoretischen Überlegungen von vielen Seiten her in Frage gestellt wird, keineswegs nur von Anthroposophen, und dass deshalb Anlass besteht, alternative Forschungsansätze nicht zu unterdrücken, sondern zu diskutieren. Außerdem hat sich Ullrich nie mit den wissenschaftstheoretischen Argumenten auseinandergesetzt, die Steiner zur Rechtfertigung seiner anthroposophischen Geistesforschung vorgebracht hat. Man kann ihm das nicht vorwerfen, denn auch die wissenschaftlichen Schüler Steiners fangen erst neuerdings an, sich um die diesbezüglichen Äußerungen ihres Lehrers zu kümmern, zum Beispiel den »Bologna-Vortrag« von 1911 oder das Buch »Von Seelenrätseln«. Unwissenheit oder das Ignorieren von Argumenten begründen jedoch kein zuverlässiges Urteil. 

AN | Kürzlich ist dem Mannheimer Lehrerseminar die Akkreditierung als Freie Hochschule versagt worden. Ist es überhaupt sinnvoll, die Waldorflehrerausbildung staatlich anerkennen zu lassen, wo sich die Waldorfpädagogik zu einem vom Staat unabhängigen Geistesleben bekennt?

HKU | Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert die Freiheit von Schulen in freier Trägerschaft, fordert aber für die Lehrkräfte dieser Schulen eine Vor­bildung, die hinter der staatlich geregelten Ausbildung nicht zurücksteht. Der Staat ist also verpflichtet, die Gleichwertigkeit einer Waldorf-Ausbildung zu prüfen, ehe er eine Unterrichtsgenehmigung erteilt, und das ist gut so. Die  Behörden könnten, wenn sie den von der Verfassung eingeräumten Ermessensspielraum ausschöpfen würden, in freier Einschätzung den besonderen Werdegang eines jeden Bewerbers auf Gleichwertigkeit hin prüfen. In der Aufbauzeit nach dem Krieg ist das oft so gehandhabt worden. Es macht aber Arbeit. Deswegen ist die Anerkennung standardisierter Ausbildungsgänge ein eingespielter und für beide Seiten erträglicher Kompromiss – aber natürlich nur so lange, wie statt Gleichwertigkeit nicht Gleichartigkeit verlangt wird. Jede Tendenz dazu müssen wir freundlich, aber entschieden zurückweisen. Jede Forderung nach kompletter Anpassung an die staatlichen Ausbildungsregularien ist verfassungsfeindlich.  

AN | Rudolf Steiner selbst hat sich der Naturwissenschaft gegenüber einerseits immer anerkennend geäußert, andererseits hat er sich nicht gescheut, die Teilnehmer des Philosophenkongress in Bologna vor 100 Jahren mit den Stufen der höheren Erkenntnis und dem Postulat eines außerleiblichen Ich vor den Kopf zu stoßen. Sind die heute tätigen anthroposophischen Erziehungswissenschaftler demgegenüber  auf Anpassung gestimmt?

HKU | Die wenigen »anthroposophischen Erziehungswissenschaftler«, die es heute gibt, bemühen sich mit Recht darum, im Gespräch mit Fachleuten außerhalb der Waldorfpädagogik auf die gängige Terminologie und auf aktuelle Trends der akademischen Forschung einzugehen. Bei Insidern erweckt das manchmal den Eindruck der Anpassungswilligkeit. Das täuscht aber. Es schadet uns nicht zu kennen, wie anderswo gedacht und geforscht wird. Auch geht es nicht um »Konfrontation«, sondern um die Präzisierung unserer Argumente. Klare Argumente haben immer eine Chance, im akademischen Gespräch ernst genommen zu werden. Wenn wir nur meinen, mutig absolute Wahrheiten verteidigen zu müssen, werden wir unglaubwürdig. 

AN | Wie gehen Sie mit der internen Kritik an der zunehmenden Bürokratisierung der waldorfpädagogischen Lehrer­ausbildung im Zuge des »Bologna-Prozesses« um? In der Zeitschrift »Erziehungskunst« konnte man dazu ja bereits in der Dezember-Ausgabe 2010 und dann in der März-Ausgabe 2011 entschiedene Proteste lesen.

HKU | Diese interne Kritik muss ernst genommen werden. Allerdings verkennt sie einige Tatsachen. In dem Bewertungsbericht der Gutachter beim Akkreditierungsverfahren der Stuttgarter Hochschule wird das Profil der dort angebotenen Studiengänge als Beitrag zur Vielfalt der Lehrerbildungsmöglichkeiten ausdrücklich gewürdigt. Das bedeutet, dass die Substanz anthroposophischer Lehrerbildung bei der modularisierten Anpassung der Studiengänge nicht nur erhalten werden konnte, sondern als wertvoll anerkannt wurde. Selbstverständlich müssen wir aber weiterhin in geduldigem Gespräch mit unseren Beratern und den zuständigen Akkreditierungsstellen, an denen wir zur Zeit nicht vorbeikommen, herausfinden, wie unnötige Festlegungen vermieden und die gängigen Vorschriften verändert werden können. Wenn uns das gelingt, werden uns auch die Studierenden an staatlichen Hochschulen, die davon profitieren würden, dankbar sein.

AN | Abschließend noch eine weitere heikle Frage. In den nächsten Jahren werden eine große Anzahl von Waldorflehrern die Schulen aus Altersgründen verlassen. Müssen wir, um diesen Aderlass zu kompensieren, Abstriche bei der Anthroposophie machen?

HKU | Das Heikle an dieser Frage ist nicht, ob wir an der Anthroposophie festhalten wollen. Das wollen wir natürlich alle, auch diejenigen, die unsere akademischen Ausbildungswege weiterentwickeln wollen. Die dafür partiell erforderliche Angleichung der Formen führt ja nicht zwangsläufig zu einer Anpassung der Inhalte. Ich halte es für nicht ganz ehrlich, auf der einen Seite ein freies Geistesleben zu fordern und zugleich diejenigen, die das auf akademischem Niveau versuchen, der Verwässerung zu bezichtigen. Ein Raum wird nicht dunkler, wenn man unterschiedliche Lichtquellen anzündet.

Viel heikler finde ich die Frage, was wir dafür bezahlen wollen. Wir müssen alles dafür tun, unsere Ausbildungsstätten so großzügig mit kompetentem Personal auszustatten, dass dort nicht nur tradiert, sondern geforscht und innoviert werden kann. Für die begabten jungen Studierenden, die wir so dringend brauchen, wäre das attraktiv und für unsere Schulen ist es eine Zukunftsinvestition, an der sich entscheiden wird, ob unsere künftigen Lehrerinnen und Lehrer die Waldorfpädagogik weiterentwickeln können oder nicht. Das gilt natürlich genauso für die Fortbildung bereits tätiger Lehrerinnen und Lehrer. Dafür ist eine gemeinsame Anstrengung der Schulen, der Ausbildungsstätten selbst und befreundeter Einrichtungen nötig, um neben den bewährten Instrumenten auch neue Finanzierungsformen für die Lehrerbildung zu entwickeln. 

Link: www.bildung-fuers-leben.de