Wo das Herz schlägt

Wolfgang Held

Für das Buchprojekt »Wo das Herz schlägt« besucht Wolfgang Held auf seiner Reise durch die Waldorfwelt Lehrerinnen und Lehrer und deren Klassen. Dabei leitet ihn die Frage: Was verbindet sie alle, was leuchtet in dem Vielen als das Eine auf? Seine vorläufige Antwort: Jeder Pädagoge hat einen ureigenen Pakt mit dem Himmel, mit dem Werdenden geschlossen. Wie daraus tägliches Schulleben wird, beschreiben die Beiträge in unserer neuen Jahresserie.

Der große Kreis aus Schulbänken im morgendlichen Dämmerlicht bringt es ins Bild. Im Innern brennt, umkränzt von Blumenschmuck, eine Kerze. Die hereinstürmenden Kinder der Klassenstufe 1 bis 3 können außerhalb des Runds reden, rennen und raufen – sobald sie in den Kreis hereintreten, werden sie stiller. Im Klassenraum gibt es ein Außen und Innen. Schon vor dem Unterricht ist etwas präsent, das über das schulische Geschehen hinaus wirkt, das vermutlich als Frage zu jeder Lebensführung gehört und hier tagtäglich kultiviert wird: Wie bildet und pflegt man den Innenraum der Persönlichkeit, so dass darin ein Licht aufgeht? »Dieser Raum ist mir heilig«, erklärt mir Christiane Hewel. Um im Schultrubel diesen Innenraum zu bilden und zu verteidigen, kann sie nicht viel Physis in die Waagschale werfen, dafür umso mehr Energie und Form – ein Gegensatz, der mir auch nach mehreren Besuchen ein Geheimnis bleibt.

In Münchenstein in der Schweiz sind die Schülerzahlen nicht hoch. Daraus hat die Schule eine Tugend gemacht. Sie fasst die ersten drei Klassen zusammen. Die Erstklässler finden dabei durch die älteren Mitschüler organisch in die Gewohnheiten und Lernformen. Miteinander Lernen ist so auch voneinander Lernen.

Durch den Bankkreis gibt es das Nebeneinander von bewegt und ruhig, von expressiv und gehalten. Jetzt folgt es zeitlich: Die Kinder singen ein Lied recht leise zusammen, dann einen Kanon in drei Gruppen umso lauter. So üben sie spielerisch, souverän zu werden: Wenn alle zusammen singen, trägt der gemeinsame Klang, im Kanon ist es anders, hier singt man als Gruppe »gegen« andere Gruppen und bleibt doch mit allen verbunden – Sympathie und Antipathie im Spiel.

Beim Zeugnisspruch sind die Kleinen dann ganz auf sich gestellt. Christiane Hewel stellt sich im Kreis gegenüber und begleitet flüsternd die Zeilen mit eurythmischen Gebärden. Das gibt Halt und wirkt wie ein seelischer Lautsprecher für die scheuen Worte.

Dann geht es für die erste und zweite Klasse in den Nachbarraum mit Tischen und Stühlen und nun folgt in fünf Schritten der Weg in die Zahlenwelt. Es ist ein Weg von den Füßen über das Herz zum Kopf, vom Tun übers Fühlen zum Verstehen, von der äußeren zur inneren Bewegung: Alle Kinder bekommen große Plastikbälle, rot und blau, und stellen sich um die Tischreihen. Jetzt geht es los: Die Klasse wandert im Kreis und zählt Schritt für Schritt bis 40 hoch. Bei Vielfachen von 4 werfen sie ihren Ball auf den Boden und fangen ihn wieder auf. Das ist nicht einfach, denn der Platz zwischen Wand und Tischreihe ist schmal. Außerdem gilt es, zwischen dem vorausgehenden und dem folgenden Kind die Mitte zu halten. Der Blick pendelt fortwährend vom Ball zu den Mitschülern. Dann die Überraschung, als ein Ball nicht in den Händen landet, sondern zwischen Stuhlbeinen wegrollt: Das Kind läuft dem Ball nicht hinterher, sondern setzt nun die Fang- und Werfbewegung pantomimisch fort. Erst wenn die Klasse bei 40 angekommen ist, springt es seinem Ball hinterher. Es ist, wie in jedem Spiel: Erst die klare Regel macht das Spiel möglich. Im nächsten Schritt wird das Nacheinander von 4, 8, 12 zum Bild. Jeder bekommt ein Brett mit zehn Nägeln im Kreis eingeschlagen. Eine rote Schnur wird von der 0 zur 4 und weiter zur 8 und 12 geknüpft. Erst war der Zahlenrhythmus mit Füßen und Armen im ganzen Leib, jetzt ist er in den Händen und wie von Zauberhand entsteht ein Fünfstern auf dem Nagelbrett. Dann wird der Zahlenkreis mit Kreide auf kleine Tafeln gemalt und schließlich ins Epochenheft übertragen. Auf die Nebenseite wird es aufgeschrieben: 1 x 4 = 4, 2 x 4 = 8 …

Zum Schluss führt Christiane Hewel die 4er-Reihe ins Denken. Die Kinder hängen sich Zahlenschilder der 4-Reihe um. Die Lehrerin ordnet sie in der richtigen Reihenfolge. »Jetzt die Augen schließen!«, ruft sie und vertauscht zwei Kinder. »Wer sieht den Fehler?« Erst suchende Blicke, dann strecken die Finger auf. Aus Rhythmus in den Beinen, dem Bild des Fünfsterns ist die lineare Ordnung geworden. »Angstfrei lernen«, so lautet das große Versprechen in den Waldorfschulen. Es ist häufig das Rechnen, bei dem wir erstmals spüren, etwas nicht zu können, den Anschluss zu verlieren. Gerade Mathematik, die die Brücke zur tieferen Ordnung der Welt schlagen soll, wird zur Einsamkeitserfahrung. Es ist eine Angst, die tief in die Glieder fährt.

In dieser Rechenstunde hatte jedes Kind sein Erfolgserlebnis, hat die eigene Wirksamkeit erfahren – ob mit Ball, Schnur oder Stift. Deshalb glauben die Kinder ihrer Lehrerin, als sie erklärt: »Etwas nicht zu können, ist gut, denn wir sind in der Schule, um es zu lernen.« Rhythmisch in einzelnen Schritten ging es ins Abstrakte.

Als sie die Zahlenkartons einsammelt, sieht sie, dass Michael seinen Karton von der Schnur abgerissen hat. Der Junge erwartet die Ermahnung und hat seine Ausflüchte parat. Doch so sanft und bestimmt der Weg in die Abstraktion ging, so auch hier: »Schau mal Michael, da sind Zahlenkarten kaputt gegangen, kannst Du sie mir noch reparieren?« Als er zwei geflickt hat, will sie ihn in die Pause schicken, doch der Junge, der sich sonst kaum auf dem Stuhl halten kann, widerspricht: »Ich muss diese Karte hier auch noch reparieren.«