Klassenzimmer

Wolfram von Eschenbach. Der verkannte Dichter des »Willehalm«?

Albrecht Hüttig
Pergament-Fragment aus Halberstadt/Sachsen, ca. 1275. Oben: Willehalm lehnt das Angebot seiner Mutter ab, in den Kampf zu ziehen und erhält von ihr Gold und Silber. Mitte: Willehalm, die Königin und zwei tote Krieger. Unten: Willehalm sorgt sich um Kyburc.

»Parzival«

An der Figur Parzivals zeigt Wolfram, dass Lebenserfahrungen zwar individuell erworben, vom eigenen Bewusstsein aber erst in Reifeprozessen erfasst werden, was notwendig durch Krisen führt. Damit sind ethische Fragen verbunden, die sich im Prozess der Individuation stellen. Wolframs Menschen- und Gottesauffassung lässt es zu, Irrwege, Fehlverhalten, Schuld und Verantwortung bis in die letzte Konsequenz des Totschlags aufzuzeigen. Bei ihrer individuellen Bewältigung sind gesellschaftliche oder religiöse Normen sekundär. Sie werden häufig entgrenzt.

»Willehalm«

Im Prolog geht es Wolfram um die individuelle Beziehung zu Gott. Er spricht den Schöpfer dialogisch an. Wenn er oberflächliche Gedanken aus seinem Bewusstsein vertreibt, erlebt er sein Wirken: dann ist er das Kind und Gott sein Vater. Weil Gott in Christus Mensch geworden ist, ist Wolfram mit ihm verwandt und Christ. Christus durchdringt die geschaffene Natur, an der die Menschen teilhaben. Wolfram bittet ihn um die richtigen Intuitionen, die er nicht aus Schriften erhalten kann, sondern nur aus der realen Beziehung zu Gott.

Für das Thema der Dichtung, die Kreuzzugsproblematik, ist diese Grundauffassung Wolframs essenziell. In äußerster Kürze zusammengefasst, geht es um Folgendes: Der adlige Willehalm gerät in Gefangenschaft unter dem arabischen Herrscher Tybalt. Seine Frau Arabel verliebt sich in Willehalm, beide fliehen nach Orange. Dort angekommen, tritt Arabel zum Christentum über, lässt sich auf den Namen Gyburc taufen und wird Willehalms Frau. Sie schätzt ihren vorherigen Mann Tybalt, obwohl sie ihn verlassen hat. Sie weiß, dass er bzw. ihre Familie sie mit aller Macht zurückholen möchte. Willehalm, seine Verwandten und seine Gefolgschaft lassen aber keinen Zweifel aufkommen, dass sie das verhindern werden. Gyburcs Vater Terramer kommt mit seinem heidnischen Heer nach Südfrankreich und schlägt das christliche Aufgebot Willehalms bei Orange in der ersten Schlacht. Die Stadt, in die sich die unterlegenen Christen zurückgezogen haben, wird daraufhin belagert. Willehalm gelingt es mit viel Mühe und Überzeugungsarbeit, Hilfe vom Kaiser zu erhalten und mit dessen Kämpfern nach Orange zurückzukehren. So findet eine zweite Schlacht statt, die für die christliche Ritterschaft unter großen Verlusten siegreich endet. Darüber kommt kein Jubel auf, denn die Trauer um die unzähligen Opfer überwiegt auf beiden Seiten. Die Heiden können die Leichen ihrer zu Tode gekommenen Kämpfer mitnehmen, um sie in ihrer Heimat zu beerdigen. Wolfram bricht den Roman nach dieser Schilderung ab. Dass er ein Fragment bleibt, ist angesichts des Themas, für das es keine positive Lösung gibt, konsequent. Soweit der Inhalt. Wolfram lässt in seiner Dichtung Gyburc zum tragischen Mittelpunkt unvereinbarer Intentionen werden. Sie steht in einem unauflöslichen Konflikt. Sie wird nicht in ihre Heimat und zu ihren Verwandten zurückkehren, sondern bei Willehalm bleiben und auch nicht die Taufe rückgängig machen. Für ihre Verwandten, sowohl für die heidnischen wie für die christ­lichen, hegt sie liebevolle Empfindungen. Ihr Schmerz ist ein doppelter, denn sie trauert um die Erschlagenen auf beiden Seiten. Der Methode, den Konflikt mit Waffengewalt auszutragen, kann sie als Frau nichts entgegensetzen. Sie ist sich, wie sie dem ritterlichen Kriegsrat vor der zweiten Schlacht darlegt, ihres existentiellen Dilemmas voll bewusst: In beiden streitenden Parteien gibt es Menschen, die ihr die Schuld am kriegerischen Konflikt geben. Sie hofft, Gott möge auf beide Parteien mäßigend einwirken, selbst dann, wenn sie tatsächlich Schuld auf sich geladen hätte. Sie bittet die christlichen Ritter, trotz des berechtigten Siegeswillens die heidnischen Kämpfer als Schöpfung Gottes zu schonen, und zwar unabhängig davon, was ihnen die heiden hânt getân (309, 1). Sie ruft in Erinnerung, dass Adam – wie allegroßen Propheten – kein Christ, sondern Heide gewesen sei. Ihr Gottesbegriff sprengt die Konfessionen, denn Gott hat alle Menschen erschaffen. Daraus ergibt sich thematisch ein Bezug zum Prolog. Wolfram bewertet die heftigen und von ihm schonungslos realistisch geschilderten Schlachten bei Alischanz ethisch: Es handelt sich um Morddiu mac vür wâr wol heizen mort; 10,20), so sein Urteil. Im Gegensatz zum höfischen ritterlichen Zweikampf im »Parzival«, bei dem der Unterlegene seine Niederlage eingesteht, dem Sieger einen Dienst erfüllt und somit am Leben bleibt, werden die Besiegten in dieser Schlacht getötet. Im »Parzival« hat Wolfram durch Trevrizent aussprechen lassen, worin die sogenannte Erbsünde besteht. Nicht etwa in der Übertretung des Gebotes Gottes durch Adam und Eva im Paradies, sondern im Brudermord Kains an Abel. Durch den Brudermord ging die Reinheit der Erde verloren und Missgunst kam unter die Menschheit. Das zerstörerisch Böse findet im »Willehalm« eine grausame Multiplikation in den Brudermorden, denn alle Kämpfenden sind – laut Prolog – Kinder Gottes, die sich an der Schöpfung und an Gott vergehen, indem sie sich gegenseitig umbringen. Dafür gibt es keine ethische Begründung, keine religiöse Legitimation, weder für Christen noch für Heiden – ein kaum zu überbietender Kontrast zur fundamentalistischen Kreuzzugs- und Dschihadideologie, die besagt: Wenn Andersgläubige getötet werden oder wenn Kämpfer selbst den Tod finden, sei für die Täter und die Opfer der sogenannten richtigen Seite das Paradies sicher. Wolframs Kritik aus dem 13. Jhdt., solche Auffassungen könnten niemals im Sinne Gottes sein, erweist sich als universal und zugleich aktuell. Wolfram offenbart in seiner Dichtung die Haltung der Bewusstseinsseele. Er antizipiert, dass es um den Menschen als Wert an sich geht, dass Verantwortung ganz persönlich zu erkennen und zu ergreifen ist. Im Religiösen ist entscheidend, sich individuell zu Gott in Beziehung zu setzen. Gott ist nicht die eingreifende, sondern die zulassende Instanz – mit aller Konsequenz – bis ins Destruktive. Es sei unter anderem an Martin Bubers »Dialogisches Prinzip« und an Hans Jonas’ Ringen um einen Gottesbegriff nach Auschwitz erinnert.

Wolfram verweist in seinen Dichtungen in vielem auf die Moderne – das macht ihn auch für Schüler*innen in der elften Klasse sehr geeignet, wenn mit seinen Romanen phänomenologisch vorgegangen wird und sich die Sinndimensionen sukzessive erschließen. Auf »Parzival« sollte »Willehalm« in kurzer, thematisch prägnanter Form folgen.

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