Wozu sind soziale Netzwerke gut? Das Beispiel Facebook

Lorenzo Ravagli

Facebook für Anfänger

Facebook ist ein sogenanntes soziales Netzwerk, typisch für das Web 2.0, eine weitere Entwicklungsstufe des Internet. Facebook kehrt sich ab von der Einbahnstaße der großen Portale, die versuchten, die Welt virtuell abzu­bilden und sich immer mehr zu Panoptiken auswuchsen, in denen man alles finden konnte, von A wie Abacus bis Z wie Zisterzienserkloster. Die großen Portale, zu denen Betreiber wie AOL, Yahoo oder auch die deutsche Telekom gehörten, waren ganz auf Downstream eingestellt. Sie überschütteten die Netzbenutzer mit ihren Inhalten und boten ihnen kaum die Möglichkeit, selbst etwas ins Internet einzubringen. Die sozialen Netzwerke setzen ganz auf die Nutzer. Sie bieten von sich aus kaum Inhalte an, sondern verlassen sich darauf, dass die Nutzer diese Inhalte generieren. Statt Downstream also Upstream.

Facebook ist eine Plattform wie MySpace oder Flickr, auf der sich jeder tummeln kann, der die Webseite der Anbieter findet und die niedrige Schwelle der Anmeldung überschreitet.

Der Clou sind Netzwerke im Netzwerk

Nach der Anmeldung muss ein eigenes Profil gestaltet werden. Facebook will mit einigen Grundinformationen gefüttert sein, wie Geschlecht, Geburtstag, Beziehungsstatus, politische und religiöse Ansichten und Aktivitäten (Hobbys). Diese Informationen kann man vor den Augen der neugierigen Netzöffentlichkeit aber auch verbergen, es sei denn, man macht sie absichtlich ausgewählten Freunden zugänglich. Das ist der Clou von Facebook. Es basiert auf der Bildung von Netzwerken innerhalb des Netzwerks, in dem alle verbunden sind – von esoterischen Gemeinschaften innerhalb der exoterischen Gemeinde. Freund kann man nur auf Einladung werden. Manche Nutzer sammeln schon lange und haben 200 Freunde oder mehr, andere ganz wenige. Jeder Nutzer besitzt innerhalb der Facebook-Plattform eine eigene kleine Website, die er ohne Programmierkenntnisse gestalten kann. Dem Eifer und der Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt, außer die der angebotenen Funktionen. So kann man seine Freunde zum Beispiel darüber informieren, was man gerade macht: was zu so sinnreichen Mitteilungen führt, wie »ich facebookle gerade«. Diese Mitteilungen erscheinen auf der eigenen Pinnwand und der Pinnwand jedes Freundes oder jeder Freundin. Hier nähert sich Face­book den Kommunikationsformen der drahtlosen Tele­fonie an. Wen haben nicht schon die lautstarken Statusberichte Mitreisender genervt: »Ich sitze gerade im Zug, irgendwo zwischen Ulm und Stuttgart, das Abteil ist überheizt und wir fahren etwa 180«?

Aber Facebook bietet noch viel mehr: Man kann Fotos hochladen, ganze Sammlungen anlegen, E-Mails an seine Freunde verschicken, die dann in deren Postfach landen und – das Non plus ultra: mit beliebig vielen Freunden gleichzeitig chatten, kürzere oder längere Nachrichten in Echtzeit austauschen oder abendfüllende, mehr oder weniger tiefschürfende Romane über die Tastatur entspinnen. Was Facebook noch nicht beherrscht, was aber sicher bald kommt, ist die Internet-Telefonie, die Skype anbietet: auf der ganzen Welt ließe sich dann von Facebooknutzer zu Facebook­nutzer telefonieren und – sofern eine Webcam vorhanden ist – sogar mit Bild.

Facebook für Fortgeschrittene

Facebook fördert ohne Zweifel die ausufernde Selbstdarstellung und die familiäre Kommunikation: Statt sich direkt mit seinen Familienmitgliedern zu unterhalten, kann man ihnen durch Facebook Botschaften zusenden, die Auskunft über die eigene Befindlichkeit oder auch die der anderen geben. Es übt aber auch in Kryptotechniken ein: Man muss nicht mit der Tür ins Haus fallen (»ich habe Liebeskummer«), sondern kann sich in vielsagenden Andeutungen ergehen (»mir ist so flau«). Bei einer solchen Statusmitteilung kann sich jeder das Seinige denken und, wenn ihn interessiert, was gemeint ist, über das Postfach nachfragen. Die Post erhält jeweils nur der Adressat, das Private wird also nicht öffentlich, es sei denn, man ist exhibitionistisch oder extrovertiert veranlagt.

Fortgeschrittene Nutzer werden den Ozean von Facebook erkunden, in dem es Vieles zu entdecken gibt: man kann Interessengruppen gründen oder schon vorhandenen beitreten. Zu Rudolf Steiner gibt es 378 Gruppen – die größte hat 1546 Mitglieder, zu Karl Marx über 500, zu Madonna ebenfalls. In einer solchen Gruppe taucht man wiederum in eine Welt für sich ein: Hier tauschen sich Wissende und Unwissende miteinander aus, hier werden Fragen gestellt und beantwortet, Diskussionen geführt, Veranstaltungen angekündigt.

Es ist angesichts dieses virtuellen Ozeans erstaunlich, dass es überhaupt noch eine Welt jenseits von Facebook gibt. Auf manche Nutzer übt dieser Ozean eine ähnliche Faszination aus, wie der Atlantik auf Christoph Columbus – nur kann man hier die Welt umsegeln, ohne an Skorbut zu erkranken. Es sei denn, man vergisst das Grünzeug zu essen, das einem die besorgten Angehörigen neben die Tastatur stellen, sofern sie nicht am familiären Zweit- oder Drittcomputer sitzen und gerade mit einem Chatten.

Metaphysik des Facebook

In vielen mystischen Strömungen des Mittelalters war die Auffassung verbreitet, die Menschenseele sei so etwas wie ein Spiegel, in dem sich das Antlitz des Schöpfers abbilde. Mit dieser Anschauung verbunden war eine andere, nach der sich das Tun und Treiben der Menschen auf der Erde auch in einer Art göttlichem Antlitz abbilde und in diesem seine bleibenden Spuren hinterlasse. Wer Gott im Spiegel seiner Seele sieht, der wird von Gott gesehen; und »Gott sieht alles«, davon waren die Gläubigen überzeugt. Heute müssen wir sagen: »Facebook sieht alles«. Wenn tatsächlich jeden Tag 700.000 neue Nutzer zu diesem Netzwerk hinzukommen, kann man sich ausrechnen, wann die gesamte vernetzte Menschheit Mitglied bei Facebook ist. Nur – in wessen Antlitz blicken wir, wenn wir uns im »Buch der Antlitze« spiegeln?

Zum Autor: Lorenzo Ravagli ist Mitglied der Redaktion der erziehungskunst.

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