Aenigma: Ein- und Ausgang

Hartwig Schiller

Die Eröffnung regte in mir eine Besinnung auf die Wirksamkeit zweier für das soziale Leben im 20. Jahrhundert so eminent wichtiger Persönlichkeiten wie Karl Marx und Rudolf Steiner an. Wer hatte dieses Jahrhundert wirklich vom Kopf auf die Füße gestellt und welche Lebenswelten sind dadurch gestiftet worden? Diese Frage war ganz bestimmt von dem ersten Ausstellungsort und seiner besonderen geographischen Lage beeinflusst.

In Halle fand sich unter den zahlreichen Exponaten ein Exemplar der österreichischen Zeitung »Anthroposophie« vom April 1923. Sein Leitartikel stammt aus der Feder Rudolf Steiners (Erstveröffentlichung im Goetheanum, II. Jahrgang, Nr. 34, 1. April 1923, GA 36) und trägt den Titel »Pädagogik und Kunst«. Im ersten Absatz heißt es da: »Die pädagogische Kunst kann nur auf echter Menschenerkenntnis beruhen. Und diese wird nicht eine vollendete sein können, wenn sie sich in einer bloßen Betrachtung erschöpft. Man lernt das menschliche Wesen nicht in einem passiven Wissen kennen. Was man über den Menschen weiß, muss man wenigstens bis zu einem gewissen Grade als das Schöpferische des eigenen Wesens empfindend erleben; man muss es im eigenen Wollen als wissende Tätigkeit erfühlen.« Pädagogische Kunst wird da als eine Sache echter Menschenerkenntnis bezeichnet, die nur auf Vollendung hoffen darf wenn sie sich nicht bloß betrachtend verhält, sondern als schöpferische Selbsterfahrung empfindend erlebt und im eigenen Wollen wissend tätig erfühlt wird. Damit ist ein ungewöhnlich hoher Grad an Bewusstsein geschildert, dessen Verständnis sich gewiss nicht dem ersten Blick erschließt. Ein Zugang kann sich jedoch vielleicht mit der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Genie ergeben.

In alten Zeiten – und in gewissem Umfang bis in die Gegenwart hinein – hat man das Künstlergenie als eine besondere Begabung origineller Charaktere aufgefasst, als eine Gabe ungewöhnlicher Persönlichkeitsstrukturen, die sich den Regeln des Gewohnten entziehen und, am Rande von Extremen wandelnd, Besonderes hervorzubringen vermögen.

Dem darin wirkenden Belieben hat um die vorige Jahrhundertwende eine Generation junger Künstler ein Anderes entgegengesetzt. Es war die Frage nach dem Anderen, dem Gegenüber, das in der künstlerischen Betätigung mitwirken sollte. Die Bezeichnung »Aenigma«, welche sich eine Gruppe dieser Künstler gegeben hat, weist ja bereits auf das Rätsel des anderen Seins hin. Das Über-Bord-werfen von Konventionen, der vorstellungshaften Imitation sinnlich-gegenständlicher Vorbilder äußerte sich in der Frage nach dem Material und seiner wesensgemäßen Handhabung. Das Malen »aus der Farbe«, das Komponieren »aus dem Intervall« waren Motive dieses neuen Kunstschaffens.

Das aber stellte Bedingungen, dafür mussten Voraussetzungen geschaffen werden. Das notwendige Instrument dazu wurde in der Selbsterziehung, in geistiger Schulung gefunden. Diesen Geist atmet die gesamte Aenigma-Ausstellung. Man sieht es bereits an den gewählten Sujets. Überall wirkt ein tiefer Ernst, der sich existentiellen Fragen zuwendet. Man erlebt die Ehrfurcht der Maler vor ihrem Objekt, vor ihren Themen und Gestaltungen.

In der Pädagogik wirkte parallel die von der schwedischen Pädagogin Ellen Key ausgegebene Parole: »Vom Kinde aus!« Für die Entwicklung des Kindes sollten nicht mehr die aus ideologischen, konventionellen oder Nützlichkeitsvorstellungen geprägten Erziehungsziele entscheidend sein, sondern die im Kind vorhandenen und zu entwickelnden Potentiale gefördert werden. Das war eine ebenso umwälzende Paradigmenrevolution. Sie erforderte ein Entsprechendes für die Pädagogik, was sich für das neue Streben in der Kunst als notwendig erwies: Selbsterziehung.

Kein Mensch gleicht dem anderen. Das bedeutet zugleich: Kein Mensch gleicht dem anderen. Kein Mensch versteht den anderen ohne besondere Anstrengung. Denn Gleiches wird nur von Gleichem erkannt. Das lehrte bereits eine alte philosophische Weisheit. Will ein Pädagoge nicht blind auf Kinder wirken, dann muss er sich ihnen erst verstehend und wissend anverwandeln. Nichts anderes bedeutet Selbsterziehung für den Pädagogen: Selbstveränderung als Anverwandlung an den anderen, zunächst unverstandenen Menschen. Und um wie viel schwerer ist das gegenüber einem Kind als einem Erwachsenen! Man unterscheidet sich sogar im Lebensalter. »Man muss [den anderen Menschen] bis zu einem gewissen Grade als das Schöpferische des eigenen Wesens empfindend erleben; man muss [ihn] im eigenen Wollen als wissende Tätigkeit erfühlen.« (s.o.)

Eines ist gewiss. Gute Vorsätze allein helfen nicht. Die Sentimentalität des Gutmeinens ist ein höchst unsicheres Pflaster. Es gleicht in weiten Zügen jener Laien- und Küchenpsychologie, die als Gazettenweisheit so tief dem Zeitgenossen eingeschrieben ist.

Was not tut, sind tragfähige Grundlagen echter Menschenerkenntnis. Dazu gehören: ein Verständnis der Leibesgliederung, Ehrfurcht vor dem Körperlichen des Kindes; ein Sensorium für die vitalen Lebensvorgänge und ein Wissen um ihre Pflege. Das Erfassen von seelischen Polaritäten wie Zuwendung und Abkehr, Begeisterung und Trübsinn betrifft die psychologischen Merkmale solcher Menschenerkenntnis.

Vor allem aber ist ein weiteres notwendig: echte Geisteswissenschaft. Sie kann das Verständnis für »das Material« des Erziehungskünstlers, den Menschen erweitern. Die zentralen Fragen lauten: Wer ist das Kind? Was bringt es mit und wohin will es? Das verlangt nach einer Unterscheidung von Vererbung, Milieu und Individualität.

Rudolf Steiner hat in dieser Beziehung Anregungen für den Unterricht gegeben, die sich fundamental von dem unterscheiden, was verbreitet als wichtig für Lehrpläne und Bildungsziele angesehen wird und doch nur enge Vorteilsgewinne im Sinn hat.. Ein Beispiel stammt aus dem Zusammenhang des freien Religionsunterrichtes, der 1919 für konfessionell nicht gebundene Schüler eingerichtet wurde. Für den Unterricht in der ersten Klasse gibt Steiner folgende Empfehlung:

»Eine Art Rückschau auf allerlei Zustände, die da waren vor der Geburt, haben die Kinder noch, wenn sie dem siebenten Jahre nahekommen. Sie erzählen manchmal die kuriosesten Dinge, die bildhafte Dinge sind, von diesen früheren Zuständen; zum Beispiel das ist nicht vereinzelt, sondern typisch, dass die Kinder kommen und sagen: Ich bin in diese Welt gekommen, das war durch einen Trichter, das hat sich immer weitergezogen. – Sie beschreiben, wie sie in die Welt gekommen sind. Diese Dinge lässt man beschreiben, lässt sie mitarbeiten und pflegt das, so dass es heraufgeholt wird ins Bewusstsein. Das ist sehr gut, nur ist zu vermeiden, dass den Kindern etwas eingeredet wird. Man müsste dasjenige herauskriegen, was sie selber sagen.« (GA 300a, S.80)

Es geht dabei also um unbefangene Gespräche über das Geborenwerden und die Kunst, solche Gespräche so zu führen, dass die Kinder sich selbst aussprechen, ihnen nichts in den Mund gelegt, aber auch nicht irgendwelche verbreiteten Vorstellungen abgefragt werden.

Wie überrascht war ich, als ich kürzlich den japanischen Pavillon auf der Biennale in Venedig besuchte. Er ist von der in Berlin lebenden Künstlerin Chiharu Shiota gestaltet und trägt den Titel »The Key in the Hand«. Die darin gezeigte Installation erstreckt sich über zwei Stockwerke. Im oberen Stockwerk sind zwei alte Holzkähne aufgestellt und von der Decke hängen unzählige rote Fäden herunter, an denen tausende von alten Schlüsseln unterschiedlichster Form und Funktionalität hängen. Das rote Fadengewimmel gibt eine eigentümliche Stimmung, die Beleuchtung sorgt für ein mystisches Element. Sie erinnert an die Färbung der Torii-Tore an Shinto Schreinen. Dort macht sie aufmerksam auf die Wirkung geistiger Kräfte im Zusammenspiel von Oben und Unten, von himmlischer und irdischer Wesenheit.

Der ebenfalls in der Aenigma-Ausstellung vertretene Maler Gerard Wagner machte mich beim Betrachten eines seiner Bilder einmal darauf aufmerksam, dass der Mensch als inkarniertes Wesen immer auf eine tragende Stofflichkeit angewiesen ist. Selbst wenn er sich auf die schwankende Welt des Wässrigen begibt, benötigt er eine harte Schale als Grundlage, ein Boot.

Bei Chiharu Shiota sind diese Zeugnisse von Inkarnation noch sichtbar, die Beziehung zu ihren Benutzern aber muss geistig erschlossen werden. Als heilige Fäden umspinnen sie die Lebenden und hoffen als sogenannte Verstorbene auf ihr Wahrgenommen-werden. Sie reichen den Lebenden die Schlüssel entgegen. Die aber müssen ergriffen, in die Hand genommen und sinnvoll angewendet werden.

Chiharu Shiota sagt dazu:

»Schlüssel sind weit verbreitet und haben einen besonderen Wert, denn sie schützen wichtige Personen und Räume. Sie regen uns an, die Tür zu unbekannten Welten zu öffnen.«

Der Zusammenhang wird vollends deutlich wenn man die zweite Installation am tragenden Pfeiler des Pavillons im Erdgeschoss betrachtet. Da sind vier Bildschirme aufgestellt, die vier Kinder im Vorschulalter zeigen, welche von Erzieherinnen in ein Gespräch über ihre Geburt verwickelt werden.

Das erste Kind: »Ich hatte den Umhang eines Elefanten und einen Papagei. Ich saß auf Papas Kopf und bewegte meine Arme. Natürlich ist er da. Und dann tauchte ich unter.

In Mamas Bauch schlief und schwamm ich. Schwimmen ging nicht, denn das Wasser war flach und so tauchte ich unter und gurgelte hinab. Ich legte mich hin, aber mit meinen Armen.«

Das zweite Kind: »Jeder war da. Jeder in der Welt war da. Nur einer nicht. Ich war nicht da. Alle, außer vier Personen, waren da. Im Himmel bin ich geboren worden. Unten auf der Erde machte Mami Flügel. Ich wurde mit Flügeln geboren und konnte fliegen.

Papa wollte mich sehen. Da fing ich an, zu gehen.«

Das dritte Kind: »Ich konnte Mama in ihrem Bauch hören. Sie erzählte eine Geschichte, zu der Bilder gehören. Ich nahm die Bilder heraus.

Ich wollte die Geschichte mit meinem Papa hören. Er hat eine seltsame Stimme. Wie ein Flugzeug.

Ich quetschte mich heraus, und: bums, war ich da.«

Das vierte Kind: »Es gab einen roten, einen grünen und einen lila Teppich. Ich habe mich sehr wohl gefühlt und bin eingeschlafen.

Und dann war es Morgen und ich wachte auf weil Mama sagte: »Wir sind zu hause.«

Als ich aufwachte, waren wir schon zu hause. Ich sagte, dass ich aufstehen wolle, - und da war ich geboren.«

Chiharu Shiota erzählt mit dem japanischen Pavillon in Venedig also Rudolf Steiners Lehrplanangabe von 1919. Es ist eine Erzählung vom Sterben und Geboren werden. Ein Lehrplaninhalt fundamentalen Mensch-Seins, der über spezielle Kulturtechniken und Wissensinhalte hinaus strahlt. Pädagogik wird Kunst, Kunst ist Pädagogik. Welch ermutigenderes Zeichen könnte es geben nach 100 Jahren Aenigma-Impulsen und anthroposophischer Pädagogik?