Anthroposophie und Rechtsextremismus? Zum Verhalten der Waldorfschulen im »Dritten Reich«

Peter Selg

»Homöopathen« und »Impfgegner« hätten mit Neonazis und Reichsbürgern demonstriert, so berichtete »zeitonline« am 1. September und versuchte aufzuzeigen, inwiefern Rudolf Steiner, die Anthroposophie und die Anthroposophen von jeher eine Affinität zum rechten Rand des politischen Spektrums, daher auch zum Nationalsozialismus gehabt hätten (Annika Brockschmidt [1]).

Johannes Creutzer publizierte im linken Magazin »konkret« im September seinen Artikel »Hogwarts für Ungeimpfte« über die »Gefährlichkeit« der Waldorfschulen – gefährlich für die »geistige Verfassung« der Schulkinder und für ihre »Gesundheit«, damit auch für die Gesellschaft. (2) Creutzer bot in seinem Beitrag an Diffamierungen, Entstellungen und Absurditäten noch einmal vieles von dem auf, was Peter Bierl und Helmut Zander – seine einzigen Literaturquellen – seit Jahrzehnten behauptet und verbreitet haben, vom Rassismus und dem, so Creutzer, »allgemein bekannten«Antisemitismus Rudolf Steiners bis hin zu den angeblich hochgradig »ideologisierten« Waldorfschulen der Gegenwart, die mit ihren abwegigen Lehrinhalten u.a. schwere Infektionskrankheiten »karmisch« verklären und daher auch die Masern kultivieren würden.

Für den Autor des Magazins »konkret« und für die Autorin von »zeitonline«gehören Anthroposophen und Waldorfschulen dem gefährlichen »Rechtsaußen«-Spektrum der deutschen Gesellschaft an; 2019 schrieb der »Skeptiker«-Autor André Sebastiani im inhaltlichen Anschluss an Zander: »Die Anthroposophie ist im Kern eine egalitäre, dogmatische, irrationale, esoterische, rassistische, antiaufklärerische Weltanschauung. Wer für eine wirklich freie Gesellschaft eintritt, sollte sich ihr entgegenstellen.« (3)

Ich möchte nachfolgend in aller Kürze bilanzieren, was über die deutschen Waldorfschulen in der Zeit des Nationalsozialismus nach gegenwärtigem Kenntnisstand zu sagen ist – als Basisinformation in Zeiten der Emotionalisierung und Diffamierung, der Polarisierung und Demagogie, die eine hohe Verunsicherung nach sich ziehen, diese möglicherweise aber auch bezwecken. (4,5)

Die Stuttgarter Waldorfschule wurde 1919 als Teil eines zivilgesellschaftlichen Reformmodells gegründet, das die Autonomisierung der Bildungs- und Kultureinrichtungen von den Einflussgrößen des Staates und der Wirtschaft intendierte (»soziale Dreigliederung«), und begann als Schule für Arbeiterkinder der Waldorf Astoria-Zigarettenfabrik mit großem didaktischem Elan, pädagogischem und sozialem Enthusiasmus. (6) Im Zentrum stand die Erkenntnis und Förderung des Kindes auf Grundlage einer differenzierten Menschenkunde und intensiven Beziehung– sowie die Entwicklung von Sozialfähigkeiten.

Die rechtsnationalen, völkischen, antisemitischen und rassistischen Gruppierungen der Weimarer Republik verfolgten den humanistischen und freiheitlichen Ansatz Steiners bereits 1919 mit scharfer Kritik und Hass, wie von Lorenzo Ravagli in allen Einzelheiten nachgezeichnet wurde. Dies betraf auch die Waldorfschulen. (7) Hitler schrieb bereits 1921 im »Völkischen Beobachter« über den gefährlichen »Gnostiker« und Anthroposophen Steiner, den »Anhänger der Dreigliederung des sozialen Organismus und wie diese ganzen jüdischen Methoden zur Zerstörung der normalen Geistesverfassung der Menschen heißen«. (8) – »Wenn diese Herren an die Regierung kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten«, sagte Rudolf Steiner im November 1923, in den Tagen nach Hitlers »Marsch auf die Feldherrenhalle« (9); er hatte bereits vier Jahre zuvor, kurz vor der Schuleröffnung, die Lehrer vor einer kommenden Zeit des Totalitarismus gewarnt, in der die Waldorfschule einen ausgesprochen schweren Stand haben würde: »Die Politik, die politische Tätigkeit von jetzt wird sich dadurch äußern, dass sie den Menschen schablonenhaft behandeln wird, dass sie viel weitergehend als jemals versuchen wird, den Menschen in Schablonen einzuspannen. Man wird den Menschen behandeln wie einen Gegenstand, der an Drähten gezogen werden muss, und wird sich einbilden, dass das einen denkbar größten Fortschritt bedeutet«, sagte Steiner zu dem Lehrerkollegium. »Wir werden einem harten Kampf entgegengehen und müssen doch diese Kulturtat tun. […] Jeder muss seine volle Persönlichkeit einsetzen von Anfang an.« (10) Und an anderer Stelle: »Diese Schule wird, sobald sie einmal so dasteht, jeden Ruck nach links aushalten, nicht aber einen entschiedenen Ruck nach rechts.« (11)

Unmittelbar nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten im Januar 1933 gerieten die Anthroposophische Gesellschaft und viele anthroposophische Einrichtungen unter hohen politischen Druck. Der Tübinger Religionsforscher Professor Jakob Wilhelm Hauer, der später als selbsternannter Anthroposophie-»Experte« in engem Kontakt zu Himmler stand, schrieb bereits im Herbst 1933 an den württembergischen Ministerpräsidenten und Kultusminister Christian Mergenthaler in einem Gutachten, die Waldorfschulen bedeuteten eine »ungeheure Gefahr für den Aufbau einer echten deutschen Erziehung«. (12) Auch eineinhalb Jahre später, am 7.2.1935, betonte Hauer in einer neuerlichen Stellungnahme für den Sicherheitsdienst, dass die Anthroposophie die zwei »Grundpfeiler« der nationalsozialistischen Weltanschauung und des Dritten Reiches verneine – den »Gedanken von Blut, Rasse, Volk« und die »Idee vom totalen Staat«. (13) Mergenthaler leitete Hauers Gutachten an Reichserziehungsminister Rust weiter; im Verbotstext der Anthroposophischen Gesellschaft, den Reinhard Heydrich nach langer Vorbereitung im November 1935 unterzeichnete, heißt es explizit: »Die auf der Pädagogik des Gründers Steiners aufgebauten und in den heute noch bestehenden anthroposophischen Schulen angewandten Unterrichtsmethoden verfolgen eine individualistische, nach dem Einzelmenschen ausgerichtete Erziehung, die nichts mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen gemein hat.« (14)

Man kann im Einzelnen darstellen, wie die Freien Waldorfschulen nach 1933 über Jahre versuchten, ihre drohende Schließung zu verhindern; die dabei eingeschlagenen Wege der rhetorischen Anpassung und der Diplomatie, der Gefügigkeit und des partiellen Opportunismus muten dabei aus heutiger Sicht wenig heroisch und anziehend an. (15) Die Waldorfschulen fügten sich der erzwungenen »Gleichschaltung« und bildeten den geforderten »Reichsverband der Waldorfschulen« (kurz darauf: »Bund der Waldorfschulen«), der als solcher in den »Nationalsozialistischen Lehrerbund« eintreten musste. Sie trennten sich auf behördliche Anweisung – ebenso wie alle anderen Schulen – von ihren jüdischen Lehrern. Einzelne Schulvertreter sandten devote Erklärungen an Behörden, in denen sie die Vereinbarkeit der Waldorfschulen mit dem »neuen Deutschland« unter Beweis zu stellen versuchten. An verschiedenen Schulen engagierten sich nationalsozialistisch orientierte Eltern (die nachweislich nur einen kleinen Bruchteil der Gesamtelternschaft ausmachten) und versuchten, die Verhandlungen mit den Behörden in die Hand zu nehmen. Die Schulleiterin der Dresdner Waldorfschule, Elisabeth Klein, führte auf eigene Faust – später auch mit »Bund«-Mandat – viele Gespräche mit hohen NS-Politikern und Ideologen wie Alfred Baeumler und Otto Ohlendorf, die den geistigen Kern der Anthroposophie radikal ablehnten, einzelne ihrer Arbeitsergebnisse aber für den NS-Staat ausnutzen wollten, darunter Demeter-Produkte oder didaktische Elemente der Waldorfpädagogik. (16)

Klein erreichte Ausnahmeregelungen für ihre Dresdner »Modellschule«, die erst 1941 verboten wurde, zeitgleich mit Kleins Verhaftung. – Man kann all diese Strategien aus heutiger Sicht verurteilen und die Auffassung vertreten, die neun Freien Waldorfschulen hätten 1933 tunlichst schließen und ihre rund 2500 Schüler in die NS-Staatsschulen schicken sollen. Genau das aber wollten die Lehrer um der Kinder und Jugendlichen willen nicht.

Die historischen Dokumente zeigen auf der anderen Seite, dass den anpassungsrhetorischen Bekundungen einzelner Waldorfschulvertreter bei den Behörden, bei der NSDAP und der SS in keiner Weise geglaubt wurde (die Anthroposophen hätten sich, so hieß es noch 1941 in einem abschließenden Bericht des Reichssicherheitshauptamtes, »ganz bewusst den Schein des Harmlosen« zugelegt, aber ihre Denkweise nicht geändert) (17). Die Dokumente zeigen des Weiteren, dass die strategischen Kompromisse in den Lehrerkollegien hochumstritten waren – viele Lehrer reagierten auf die Eingaben ihrer »Vertreter« an die Behörden entsetzt und protestierten. Die Dokumente zeigen auch, dass das Unbehagen der Lehrer über das Vorgehen von Elisabeth Klein groß war und schließlich eine völlige Abwendung von ihr zur Folge hatte. Sie zeigen, dass die kleine, aber aktive Fraktion der NS-Eltern am Ende keine Chance in den Schulen hatte und sich zurückziehen musste. Sie zeigen, dass die jüdischen Lehrer zwar zum Schutz der Schule ihre Kündigung einreichten, aber in engem, freundschaftlichem Kontakt mit ihren Kollegen blieben, die sich für ihre Weiterarbeit an Waldorfschulen im Ausland und für ihre finanzielle Absicherung einsetzten. Sie zeigen, dass, nach bisherigem wissenschaftlichem Kenntnisstand, kein einziger der 159 Waldorflehrer an deutschen Schulen bekennender Nationalsozialist war – im Unterschied zu Peter Bierl, Helmut Zander und ihren journalistischen Gefolgsleuten hatten die Waldorflehrer den humanistischen und kosmopolitischen Kern der Anthroposophie erfasst. Noch sehr viel wichtiger als all dies ist jedoch der ebenfalls sehr gut dokumentierte Sachverhalt, dass es den Lehrern gelang, den pädagogischen Innenraum ihres Unterrichts und die Schulatmosphäre frei von der NS-Ideologie zu halten, und dies auch in Dresden, an der Schule Elisabeth Kleins.

Die von Nobert Deuchert und später Wenzel Michael Götte ausgewerteten Behördenberichte vermitteln ein eindrucksvolles Bild: Die Inspektoren waren entsetzt, dass die Waldorfschulen sich in keiner Weise dem Regime anpassten – weder im Unterricht, noch in der Gestaltung der Schule (»Keine einzige Zeichnung, kein Lied, kein Gedicht, nichts verriet etwas von dem, was heute in Deutschland vorgeht«, schrieb die erschütterte Gaureferentin des NS-Lehrerbundes nach der Besichtigung der Wandsbeker Waldorfschule am 6.3.1937) (18). Die Berichte der Inspektoren lassen den kreativen Widerstand der Schulen erkennen, ihre freiheitliche Diktion und pädagogische Zivilcourage in gefährlicher Lage. Bemerkenswert sind auch die Dokumente der Schulschließungen von 1936-1941, der Ton und der Inhalt, mit denen sich die Lehrer am Ende an die Eltern und insbesondere an die Schüler wandten (sechs der acht noch vorhandenen Waldorfschulen schlossen sich in den Jahren von 1936-1940 selbst, weil sie unter den gegebenen Bedingungen nicht mehr weiterarbeiten wollten). Die erhalten gebliebenen Ansprachen der Stuttgarter Lehrer wurden zum 100. Jubiläum der Schule im September 2019 vollständig veröffentlicht. (19) Eine eindrucksvolle pädagogische Kraft und Moral lebt in ihren Worten, der Atem der Zivilcourage und Zukunft. (20)

Nein, die Waldorflehrer der NS-Zeit waren definitiv keine politischen Widerstandskämpfer, aber sie waren schöpferische Humanisten und Individualisten, vor denen man Respekt haben kann. Und was Berlin und unsere so andere Gegenwart betrifft, so denke ich, dass tatsächlich einige Waldorfpädagogen und -eltern unter den Hunderttausenden der Corona-Demonstration waren und sich friedlich für die Wahrung der Grundrechte einsetzten, für Selbstverantwortung und eine freiheitliche Zivilgesellschaft in Zeiten dramatischer Umweltzerstörung, autoritärer Gesundheitspolitik und forcierter Biotechnologie. Dagegen werden sie sich nicht unter jenen rechtsextremen und sonstigen Gruppierungen befunden haben, die – weit ab von der Corona-Versammlung – zum »Sturm auf den Reichstag« riefen und ins Zentrum des medialen Interesses gerückt wurden. Unterstellungen einer solchen Verbindung zwischen Anthroposophie und Rechtsradikalismus, wie sie »zeitonline« und »konkret« verbreitet haben, sind so falsch wie strategisch; sie sollen offensichtlich bewirken, dass differenzierte und kritische Stellungnahmen zu verschiedensten Aspekten der Corona-Krise (21) aus Angst vor Diffamierung unterlassen werden und statt Zivilcourage das Gegenteil handlungsbestimmend ist und bleibt.

Hinweis: Leider sind in der gedruckten Ausgabe durch ein technisches Versehen die Anmerkungszahlen im laufenden Text weggefallen. Sie können hier ein berichtigtes PDF des Beitrags von Peter Selg herunterladen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Erziehungkunst: Anthroposophie ist in ihrem Wesen und ihrer Praxis antirassistisch

2 Vgl. konkret 9/20, S. 50-52.

3 A. Sebastiani: Anthroposophie. Aschaffenburg 2019, S. 164.

4 Vgl. P. Selg: Rudolf Steiner, die Anthroposophie und der Rassismus-Vorwurf. Arlesheim 2020.

5 Vgl. P. Selg: Erzwungene Schließung. Arlesheim 2020. Die zum 100. Jahrestag der Stuttgarter Schuleröffnung erschienene Studie untersucht das Verhalten der Waldorfschulen in der NS-Zeit, aufbauend auf die differenzierten historischen Arbeiten von N. Deuchert, U. Werner, Chr. Lindenberg, W. M.Götte, K. Priestman und V. Frielingsdorf.

6 Vgl. T. Zdražil: Freie Waldorfschule in Stuttgart 1919-1925. Stuttgart 2019.

7 Vgl. L. Ravagli: Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie. Stuttgart 2004.

8 Ebd., S. 123.

9 Zit. n. A. Samweber: Aus meinem Leben. Basel 1981, S. 44.

10 R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. GA 293. Dornach 1992, S. 332.

11 Zit. n. H. Hahn: Der Weg, der mich führte. Stuttgart 1969, S. 665.

12 Zit. n. W. M. Götte: Erfahrungen mit Schulautonomie. Das Beispiel der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2006, S. 564.

13 Zit. n. U. Werner: Anthroposophen in der Zeit des Nationalsozialismus. München 1999, S. 67.

14 Ebd., S.76.

15 Vgl. P. Selg: Erzwungene Schließung, S. 103ff.

16 Ebd., S. 124-142 und S. 247-274.

17 Die Anthroposophie und ihre Zweckverbände. Berlin 1941, S. 56.

18 Zit. n. A. Wagner (Hg.): Dokumente und Briefe zur Geschichte der Anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. 2. Band. Rendsburg 1991, S. 28.

19 In: P. Selg: Erzwungene Schließung, S. 25-88.

20 Vgl. P. Selg: Zivilcourage. Die Herausforderung Freier Waldorfschulen. Arlesheim 2020.

21 Vgl. u.a. Ch. Eisenstein, T. Hardtmuth, Ch. Hueck, A. Neider: Corona und die Überwindung der Getrenntheit. Neue medizinische, politische, kulturelle und anthroposophische Aspekte der Corona-Pandemie. Stuttgart 2020; U. Hurter, J. Wittich (Hg.): Perspektiven und Initiativen zur Coronazeit. Dornach 2020.