Auf der Suche nach einem sinnvollen Leben

Erziehungskunst | Warum wurde das Jugendseminar gegründet?

Marco Bindelli | Es war schlicht die Suche nach einem sinnvollen Leben. Es war eine Forderung der jungen Menschen selbst, die Anfang der 1960er an den berufsorientierenden Tagen im Rudolf Steiner Haus teilnahmen. Es fehlte ein allgemeinbildendes anthroposophisches Seminar, das neue Perspektiven auf bestehende oder entstehende Berufe eröffnete.

EK | Welches Ziel hatten die damaligen Initiatoren vor Augen?

MB | Den damaligen Stiftern, wie Mahle und Voith und den Mitwirkenden aus den Seminaren, wie Benesch, von Kügelgen, Tautz, Kranich, Teichmann und Hamacher schwebte schon damals eine Art freie Hochschule auf der Uhlands­höhe vor.

EK | Welches Bildungsprogramm hat das Jugendseminar?

MB | Das Studienjahr besteht aus drei Teilen: dem studium fundamentale – einer Einführung in die Anthroposophie, dem studium generale – einer Einführung in die verschiedensten Lebensfelder von Philosophie bis Wirtschaft und dem studium individuale – der künstlerischen Abschlussarbeit. Mit dabei natürlich Eurythmie, Bothmer-Gymnastik, Theater, Musik ... und viele Exkursionen. Rund 30 Dozenten, davon acht feste Mitarbeiter, stemmen dieses Programm.

EK | Woher kommen die jungen Leute und was wollen sie?

MB | Etwa die Hälfte sind ehemalige Waldorfschüler. Sie kommen aus aller Welt. Schaut man zurück: Rund 30 Waldorfschulgründungen sind Absolventen des Jugendseminars zu verdanken.

Im Schnitt leben und studieren hier 25 junge Menschen im Alter von 18 bis 27 Jahren. Sie kommen in einer Lebensphase zwischen Schule und weiterer Ausbildung zu uns, um sich zu orientieren, herauszufinden, wer sie sind und welche Aufgabe sie ergreifen möchten.

EK | Ist das Jugendseminar ein Auffangbecken?

MB | Nein, wir therapieren nicht, auch wenn wir an existenziellen Fragen dran sind. Aber für sensible, ernsthaft suchende junge Menschen ist es in der heutigen Zeit nicht leicht, Antworten und einen Entwicklungsraum zu finden.

EK | Was kostet das Jugendseminar?

MB | Für Kost und Logis und den gesamten Unterricht sind monatlich 550 Euro aufzubringen. Viele Studenten jobben nebenher oder in den Trimesterferien. Es gibt auch verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten, wie Teilstipendien und zinslose Darlehen.

EK | Gibt es Zukunftspläne?

MB | Ja, wir sind schon mittendrin: 2012 wurde der Campus A gegründet, ein Zusammenschluss aller anthroposophischen Ausbildungsstätten im Stuttgarter Umkreis. Dort laufen Veranstaltungen der Dozenten oder solche, die von den Studenten selbst organisiert werden und die großen Anklang finden, zum Beispiel ein gemeinsamer Semesterbeginn. Dann gibt es die bildungsArt14 mit Gesprächsforen, Open space, Arbeitsgruppen, campus Gala, Open Stage und Nachtcafé im Rudolf Steiner Haus. Es setzt ein langsames Umdenken an den Seminaren ein in Richtung: Was wollen die Studenten aus eigenen Impulsen, und nicht nur, was wollen die Seminare? Die bildungsART15 vom 1.-6. März 2015 ist schon in Planung. Schließlich das Uni-Experiment im Schellberghaus, eine selbstverwaltete und selbstorganisierte Bildungsinitiative, in der die Teilnehmer ihren Studienverlauf und ihren Studienabschluss selbst in die Hand nehmen.

EK | Gibt es auch berufspraktische Angebote?

MB | Ja, wir arbeiten zum Beispiel mit der GLS-Gemeinschaftsbank, der Filderklinik, der Helixor Heilmittelherstellung, dem Sozialamt der Stadt Stuttgart sowie mit den Karl-Schubert-Werkstätten, Sonnett und der Kooperative Dürnau zusammen.

EK | Bleiben Sie mit diesen Initiativen nicht ein Angebot für Insider?

MB | Nein, wir treten heute sehr viel mehr in Kontakt mit der nichtanthroposophischen Welt als früher. Die Ausländerintegrationsbehörde der Stadt Stuttgart zum Beispiel ist sehr an unserem Konzept interessiert. Nicht nur durch Kooperationen, sondern auch durch Studenten, die vorher nichts mit Waldorf oder Anthroposophie am Hut hatten, erweitert sich ständig das Begegnungsspektrum.