Ausgehirnte Hirnkonstruktionen

Thomas Marti

War es früher der liebe Gott, der unser Schicksal weisheitsvoll lenkte, so ist es jetzt angeblich das Gehirn, welches für uns denkt, handelt und uns die Welt erschafft.

Sicher, die Neurowissenschaften haben in den vergangenen Jahren beachtenswerte Fortschritte erzielt. Beispielsweise kann heute der Zusammenhang zwischen kognitiven und physiologischen Prozessen im Nervensystem über bildgebende Verfahren (z.B. die funktionelle Magnetresonanz­tomographie) wesentlich präziser beschrieben werden als früher. Mit diesen Verfahren ist es möglich, dem Gehirn bei seinen Tätigkeiten in Echtzeit zuzuschauen. Wird eine Versuchsperson im Labor mit bestimmten Aufgaben beschäftigt – etwa einen Text zu lesen, ein Bild zu betrachten oder eine Rechenaufgabe zu lösen –, dann lässt sich auf dem Bildschirm simultan beobachten, in welchen Gehirnarealen sich die Stoffwechselaktivitäten verändern. Relativ jung ist auch die Erkenntnis, dass sich die einzelnen Gehirnbereiche durch aktive und sich wiederholende Tätigkeiten entwickeln oder durch Vernachlässigung verkümmern können.

Das hängt damit zusammen, dass die synaptischen Verbindungen unter den Nervenzellen nicht einfach gegeben sind, sondern sich je nach Tätigkeit neu bilden und umbilden. Was auch immer wir tun hinterlässt organisch-körperliche Spuren und verändert unsere physischen Organe.

Blick in den Spiegel

Trotz intensiver Forschung ist unsere Kenntnis von der funktionellen Architektur des Gehirns nach wie vor sehr lückenhaft. So ist man noch ziemlich weit davon entfernt, verstehen zu können, wie es zum Beispiel zu den zahlreichen hirnorganischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, Parkinson, Epilepsie, Schizophrenie oder Autismus kommt. Ihnen steht man ziemlich hilflos gegenüber. Viele grundlegende Fragen sind unbeantwortet geblieben. Die fundamentalste, erste und zugleich letzte Frage der Neurologie ist: Wie kann das physische Nervensystem Grundlage sein für das menschliche Bewusstsein? Ansätze zur Aufhellung dieser Frage gibt es viele.

Die gängigsten gehen davon aus, dass unser Weltbild nur eine Vorspiegelung unseres Gehirns ist und nicht die eigentliche Wirklichkeit. Dieses Dogma ist ein Problem: Wie soll das Gehirn als »Weltanschauungsapparat« verstanden werden, wenn die Grundlage dafür doch wiederum nur der »Weltanschauungsapparat« des Hirnforschers ist? Der Gehirnforscher setzt bei sich selber ein Bewusstsein voraus, das er durch Forschung an seinen Objekten für eine bloße Konstruktion hält. Das ist ein eigentümliches, weil letztlich zirkuläres Unterfangen, das dem Versuch gleicht, durch den Blick in einen Spiegel etwas von dessen Rückseite zu erfahren.

Das verwirrendste Problem

Man war lange überzeugt, die vielen höheren Leistungen (z.B. die Sprache) wären im Gehirn hierarchisch geordnet, an der Spitze der Funktionspyramide gäbe es so genannte Funktionszentren, denen die übrigen Funktionen untergeordnet sind. Die Neurowissenschaft der jüngeren Zeit musste sich aber eines anderen belehren lassen: Das Gehirn ist besonders bei komplexen Fähigkeiten nicht hierarchisch geordnet, sondern distributiv (siehe Abbildung). Wolf Singer, einer der führenden Neurophysiologen, nannte dies das »verwirrendste Problem«, das die derzeitige Neurowissenschaft umtreibt. Er schreibt dazu:

»Uns stellt sich heute das Gehirn als extrem distributiv organisiertes System dar … es ist völlig unklar, wie ein derart parallel organisiertes System dazu kommt, das Bild einer kohärenten Wahrnehmungswelt zu entwerfen und sich insgesamt zielgerichtet zu verhalten … Wir bezeichnen dieses faszinierende Rätsel als das Bindungsproblem und wissen, dass wir ohne seine Lösung keine geschlossene Hirntheorie formulieren können.«

Mit dem »Bindungsproblem« ist ein Erkenntnisproblem verknüpft, das letztlich in der Frage mündet, wie aus der Addition der Teile das Ganze begriffen werden kann. Es ist offensichtlich, dass das analytisch-naturwissenschaftliche Denken, das die Hirnforschung dominiert und zur Kenntnis vieler wichtiger Einzelheiten geführt hat, nicht ausreicht, um zu einem ganzheitlichen Verständnis des Gehirns zu kommen. An diesem Erkenntnisproblem ist bisher auch die Frage gescheitert, wie das Gehirn mit dem menschlichen Bewusstsein zusammenhängt.

Wir und unser Froschgehirn

Nach dem gängigen Erkenntnisprinzip der neuzeitlichen Naturwissenschaft muss sich der Forscher bemühen, sich als Subjekt nicht einzumischen und nach größtmöglicher Objektivität zu streben. Da der Naturforscher davon ausgeht, dass »Bewusstsein« etwas bloß Subjektives ist, konzentriert er sich auf die beobachtbaren Objekte und untersucht das Nervensystem so, wie man auch andere Naturobjekte untersuchen kann. Gerhard Roth, wie Wolf Singer und Manfred Spitzer ebenfalls populärer Buchautor und Hirnforscher, sucht sich hierfür das »einfachste Gehirn, das man bei Wirbeltieren« finden kann, nämlich das der Frösche und Salamander.

Solche Rückgriffe auf einfachere Tiere lösen nicht nur viele ethische und praktische Probleme, sondern haben auch den Vorteil, dass die Objektivität leichter zu wahren ist, als wenn mit Menschen experimentiert wird. Letztlich besteht aber dann doch das Interesse, die Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen und die Frage zu beantworten, wie es möglich ist, dass so etwas wie »Bewusstsein« entstehen kann: Wie kommt es, dass das Gehirn mir ermöglicht, »Ich« zu mir zu sagen, mich als ein »Ganzes« zu erleben, Gefühle zu entwickeln, etwas zu wollen und die Welt als etwas in sich Verbundenes, Einheitliches, Zusammenhängendes zu erleben?

Roth hat auf solche Fragen einfache Antworten. Möglich sind diese einfachen Antworten deshalb, weil er der Einfachheit halber davon ausgeht, dass der Mensch auf sein Gehirn reduziert werden kann und damit vergleichbar wird mit Fröschen und Salamandern. Wenn nämlich kein grundlegender Unterschied im Aufbau des Gehirns von Mensch und Fröschen existiert und der Unterschied lediglich ein gradueller ist, dann ist es einfach, einzusehen, dass alles, was wir Menschen an Erkenntnisfragen und an ethischen Problemen zu lösen haben, nur das Produkt eines massiv gesteigerten Froschhirns ist.

Hätte der Frosch ein komplexeres Gehirn, als er tatsächlich hat, dann würde auch er »Ich« zu sich sagen. Die Konsequenz aus dieser Reduktion ist: Unser Ich-Erlebnis ist nur eine Einbildung des Gehirns, und nur Dank dieser Einbildung sind wir fähig zu Vorstellungen von Liebe, Freiheit oder einer gerechten Gesellschaft. Alles, was wir Menschen bewusst leben und erleben, ist aus der Sicht des Hirnforschers eine Welt von Illusionen, die nicht mal als solche

erkennbar sind. Was wir als »Bewusstsein« erleben, ist für Roth nichts als ein naiver Glaube. Erst die Hirnforschung, so die Meinung, sei geeignet, uns über die wahre Wirklichkeit aufzuklären und Licht in unser an sich dunkles Dasein zu werfen. Dieses Dasein heißt: physiologisch-chemischer Hirnzustand.

Es geht nichts über unser Gehirn

Eine solche Auffassung hat weit reichende Folgen. Können wir überhaupt verantwortlich sein für das, was wir tun? Auch auf solche Fragen hat der Hirnforscher Gerhard Roth eine Antwort:

»Das bewusste, denkende und wollende Ich ist nicht im moralischen Sinne verantwortlich für dasjenige, was das Gehirn tut, auch wenn dieses Gehirn ›perfiderweise‹ dem Ich die entsprechende Illusion verleiht … Das Ich ... entscheidet nichts…. Wenn also Verantwortung an persönliche, moralische Schuld gebunden ist, wie es im deutschen Strafrecht der Fall ist, dann können wir nicht subjektiv verantwortlich sein, weil niemand Schuld an etwas sein kann, das er gar nicht begangen hat und auch nicht begangen haben konnte.«

Die Konsequenzen aus einer solchen Sicht sind höchst delikat. Roth empfiehlt der Gesellschaft, das Verhalten von problematischen Individuen »durch Belohnung und Androhung von Strafe (d.h. Abschreckung), durch Lob und Tadel zu ändern« und im Einzelfall abzuklären, inwiefern aus Sicht des Hirnforschers »eine Erziehung zwecklos« ist. Roth schätzt den Anteil von gehirnbedingt »Unverbesser­lichen« auf etwa acht Prozent. Viele Hirnforscher sind in der jüngsten Zeit zu Autoritäten in Lebens- und Bildungsfragen geworden.

Von der Hirnforschung wird erhofft, dass sie über das »richtige« Lernen und seine Voraussetzungen aufklärt und aufzeige, wie eine »Schule des Lebens« (Spitzer) realistischerweise auszusehen hätte. Darüber hinaus äußern sich viele Hirnforscher öffentlich auch gerne zu Fragen wie Religions- und Ethikunterricht, übers Fernsehen, über das Verhältnis von Kirche und Staat, über unsere Beziehung zum Islam, über Lebensinhalte und Werte oder über die Bedeutung der Persönlichkeit in der Erziehung. Die allermeisten dieser Ansichten entstammen aber überhaupt nicht der Hirnforschung, sondern den Erfahrungen als Vater oder als Hochschullehrer. Sie sind gewonnen aus der Psychologie, der Sozialforschung oder schlicht der Alltagserfahrung.

Mir ist bisher keine einzige Schlussfolgerung aus der Hirnforschung im engeren naturwissenschaftlichen Sinn begegnet, die z.B. zu einer Vermenschlichung der Schule führen könnte.

Mir begegnet vielmehr eine Fokussierung auf neuronale Strukturen und die an ihnen zu beobachtenden Körperprozesse. Solche Einblicke können wichtig sein für das Verständnis von Lernvorgängen, dürfen uns aber nicht zu dem Glauben führen, in Wirklichkeit würden wir nicht Kinder, sondern Gehirne unterrichten. Das wäre ein fataler Rückfall in einen anrüchigen Biologismus, der den Menschen auf ein bloßes Naturwesen reduziert, um ihn für gesellschaftliche Zwecke zu instrumentalisieren. Deshalb tun wir gut daran, den Schlussfolgerungen der Hirnforschung mindestens mit kritischer Vorsicht zu begegnen.

Es könnte sich um ideologisierte Hirnkonstruktionen der Hirnforscher handeln.

Literatur:

Gerhard Roth: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. 2003Gerhard Roth: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt, Stuttgart 2011 | Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2002 | Manfred Spitzer: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Berlin/Heidelberg 2007