Bildung als Handelsware

Wilhelm Neurohr

Das Bestreben, mit schulischen Bildungseinrichtungen finanzielle Profite an den Aktienmärkten zu erzielen, wie seinerzeit die anglo-amerikanische »Phorms AG«, soll sich nun in großem Maßstab fortsetzen – mit Hilfe eines heftig umstrittenen trans-atlantischen Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA mit dem Kürzel TTIP sowie eines noch weiter reichenden globalen Abkommens mit dem Kürzel TISA, das zurzeit parallel verhandelt wird. Davon bleiben auch die Freien Waldorfschulen (als anerkannte »staatliche Ersatzschulen«) mit ihrer »Non-Profit-Trägerschaft« nicht unberührt.

Den Bildungssektor betrachten die Ökonomen als einen der größten Wachstumsmärkte. An den internationalen Finanzmärkten erhofft man sich durch den internationalen »Bildungshandel« am boomenden »Bildungsmarkt« Gewinne in Höhe von 2,5 Billionen Dollar. Deshalb sind nunmehr auf Betreiben einflussreicher Lobbyisten-Netzwerke unter anderem auch Kultur und Bildung ins Visier des transnationalen »Freihandels« geraten, nachdem vielerorts bereits die profitable Privatisierung der einst öffentlichen Energie- und Wasserversorgung vollzogen wurde sowie mit der begonnenen vollständigen Privatisierung des Gesundheitswesens weitere Gewinne in Billionen-Höhe erwartet werden.

Profite durch »Bildungshandel«

Längst drängen private Business-Schulkonzerne, Weiterbildungsanbieter und kommerzielle Kindergarten- und Krippenbetreiber auf den boomenden Bildungsmarkt, die zugleich das öffentliche Bildungs- und Erziehungswesen (mitsamt den Non-Profit-Privatschulträgern) schlecht reden. Zu beobachten ist ein sprunghafter Anstieg der kommerziellen und von großen Konzernen unterhaltenen Hochschulen und ihrer auswärtigen Dependancen: Den 298 öffentlichen Hochschulen in Deutschland stehen 129 kommerzielle (Konzern-)Hochschulen gegenüber. Und auch an den öffentlichen Hochschulen haben die Geldgeber aus der Wirtschaft inzwischen das Sagen bei Forschung und Lehre, so dass die Freiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft gefährdet ist.

Die über 34.000 allgemeinbildenden Schulen allein in Deutschland gelten als großes Marktpotenzial; zusammen mit den berufsbildenden Schulen (2,5 Millionen Schüler) unterrichten sie über elf Millionen Schülerinnen und Schüler; weit über 5.000 Schulen befinden sich in privater Trägerschaft mit 726.000 Schülerinnen und Schülern. Hinzu kommen für die Erwachsenenbildung fast 1.000 Volkshochschulen mit jährlich neun Millionen Besuchern und Einrichtungen anderer Fortbildungsträger. Die Sorge ist berechtigt, dass die Interessen der bisherigen Bildungs- und Schulträger ins Hintertreffen geraten, wenn die größte Freihandelszone der Welt mit mehr als 800 Millionen Einwohnern fast 60 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes und 40 Prozent des Welthandels spätestens in ein bis zwei Jahren weltweit die Regeln diktiert und zur Kommerzialisierung auch des Bildungsmarktes antritt.

Die Freihandelsabkommen zielen darauf ab, dass öffentliche Einrichtungen einschließlich der anerkannten Ersatzschulen in privater Trägerschaft nicht mehr gefördert werden dürfen oder dass kommerzielle Bildungsanbieter in gleicher Weise gefördert werden müssen. Zudem sollen Bildungsangebote transnational ausgeschrieben werden, wobei die kommerziellen Anbieter als Wettbewerber auftreten können. Die Ausschreibungskriterien werden von der Privatanbieter-Lobby mitbestimmt. Das könnte womöglich der Anfang vom Ende freier und unabhängiger Schulgründungen sein, zumindest das Ende ihrer staatlichen Förderung und Anerkennung im Falle gleichzeitiger Konkurrenzangebote einer kommerziellen Schulgründung am jeweiligen Standort.

Die Bildung darf nicht vom Kommerz vereinnahmt werden

Galt es bislang, den alten Zopf abzuschneiden, dass unser Schulwesen allein auf staatlicher Grundlage aufgebaut wird statt auf der Eigeninitiative und Gestaltungsfreiheit der am Schulleben Beteiligten, geht es nunmehr darum, die Vereinnahmung von Bildung und Kultur durch eigennützige statt gemeinnützige wirtschaftliche Profitinteressen vor allem großer transnationaler Dienstleistungs- und Bildungskonzerne abzuwehren. Deren Interessen werden in den geheim verhandelten Freihandelsabkommen über die demokratisch legitimierten staatlichen Regelungen gestellt. Was die Bürgerinnen und Bürger und deren Parlamente darüber denken, spielt erst in zweiter Linie eine Rolle.

Die Wirtschaft gewinnt die Oberhand über das rechtliche und kulturelle Leben und erstickt die individuelle Freiheit und die sozialen Impulse. Und sie will unsere Bildungslandschaft einschneidend verändern. Kultur und Bildung als elementare Bürger- und Menschenrechte stellen aber nichtökonomische Gesellschaftsaufgaben und zwischenmenschliche Beziehungsdienstleistungen für die Allge­meinheit, nicht für die Märkte dar; sie besitzen einen eigenen nichtökonomischen Wert. Sie gehören deshalb nicht als »Handelsware« oder »Produkte« mit Warencharakter auf Scheinmärkte für »Kultur- und Bildungskonsumenten«, weil die gewinnorientierten Handelsmärkte keine kulturellen Güter und Errungenschaften hervorbringen können, sondern diese verhindern, wenn sie nicht lukrativ sind.

Größte Widerstandsbewegung seit Bestehen der EU

Noch nie in der Geschichte der Europäischen Union sind deshalb so viele Menschen und zivilgesellschaftliche Initiativen gegen ein Vorhaben der EU Sturm gelaufen wie derzeit gegen das Geheimabkommen TTIP und das noch geheimere globale Abkommen TISA. Hunderte zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisationen haben sich im Widerstand gegen TTIP und TISA zusammengeschlossen und bereits mehr als 700.000 Unterschriften gesammelt. Ein »alternatives Handelsmandat« wurde entwickelt und ein Verhandlungsstopp gefordert; alle Verhandlungstexte sollen veröffentlicht werden.

Im ganzen Land gründen sich örtliche und regionale Bündnisse gegen TTIP und TISA sowie CETA (Freihandelsabkommen mit Kanada als »Blaupause« für TTIP), die allerorts Aktionen und Veranstaltungen durchführen und in den Kommunalparlamenten Beschlüsse und Resolutionen herbeiführen, da auch die kommunale Daseinsvorsorge betroffen ist, wie der Städtetag und die kommunalen Unternehmen befürchten. Die EU-Kommission und die Bundesregierung sowie US-Regierung und die einflussreichen Lobbyverbände drängen hingegen auf Eile bei den geheimen Verhandlungen, die spätestens 2015 abgeschlossen werden sollen, bevor die zivilgesellschaftlichen Widerstände das Abkommen zu Fall bringen.

Europäische Bürgerinitiative sammelt eine Million Unterschriften

In Gang gesetzt wurde auch eine unterstützenswerte Europäische Bürgerinitiative (EBI), die mit der Sammlung von einer Million Unterschriften in mindestens sieben EU-Ländern von der Möglichkeit des Lissabonner EU-Vertrages (seit 1. April 2012) Gebrauch macht, über eine Petition bei der EU-Kommission die Abkommen zu hinterfragen. Jeder hat die Möglichkeit, sich daran zu beteiligen.

Dieses Mal sind durch die umstrittenen Freihandelsabkommen neben dem hier abgehandelten Kultur- und Bildungsbereich vor allem auch Umweltstandards, Verbraucherschutz und Sozialstandards gefährdet. Die staatliche Gerichtsbarkeit würde bei Handelsstreitigkeiten durch private Schiedsgerichte ersetzt, die demokratische Gesetze aushebeln und Staaten und Steuerzahler zur Entschädigung für entgangene Gewinne verurteilen könnten. TTIP geht im Dienstleistungssektor über alle bisherigen bilateralen und multilateralen Abkommen weit hinaus. Das nichtöffentliche und intransparente Verfahren und die in Frage gestellte Beteiligung des Bundestages zeigt überdies Abgründe im Demokratieverständnis der EU auf: Beamte verhandeln mit Unternehmen über Belange der Bevölkerung, während diese außen vor bleiben soll? »Im Namen des Volkes« verhandeln von niemandem gewählte Funktionäre mit der Privatwirtschaft nichtöffentlich über die Grundwerte von Rechtstaatlichkeit und Bürgerbeteiligung in Europa sowie über Kultur und Bildungsfragen.

Generalangriff auf Demokratie und Kultur

Die Kulturschaffenden und Bildungsträger haben das Problem frühzeitig erkannt und leisten Widerstand gegen die Freihandelsabkommen. Lehrergewerkschaften in Europa und den USA machen mobil. Sie halten TTIP für einen Generalangriff auf die demokratische Beschlussfassung im Bildungsbereich. Auf europäischer Ebene macht das Europäische Gewerkschaftskomitee für Bildung und Wissenschaft ebenfalls Druck auf die Verhandlungsführer. Die DGB-Gewerkschaft GEW (Erziehung und Wissenschaft) sowie der DGB und Verdi sowie der Lehrerverband VBE kritisieren massiv das Abkommen. Und die Buchhändler (Börsenverein des Deutschen Buchhandels) sorgen sich um die Buchpreisbindung.

Der deutsche Kulturrat, die kulturpolitische Gesellschaft, die Rundfunkräte und die Deutsche UNESCO-Kommission sehen in TTIP einen Verstoß gegen die gültige UNESCO-Kulturkonvention. Das TTIP-Abkommen träfe unsere Vorstellungen von Kultur im Kern. Die deutsche Kultur­staatsministerin Monika Grütters fordert aus dem Regierungslager heraus ebenfalls mit Nachdruck die Herausnahme von Kultur und Bildung aus dem Abkommen. Auch beim Goethe-Institut, dessen Gremien namhafte Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft angehören, darunter Schriftsteller, Musiker, Kunstsammler, stößt TTIP auf heftige Kritik: Kultur und Bildung sollten besonders geschützt werden und künstlerische Produktionen könnten nicht nach den Gesetzen des freien Marktes bewertet werden.

Befreiung des Bildungswesens von Staat und Wirtschaft

Die Debatte um die problematischen Freihandelsabkommen sollte auch Eltern, Lehrern und Schülern an Waldorfschulen und in ihren Verbänden nicht gleichgültig sein, da sie ebenfalls von den Folgen der Abkommen betroffen sein werden. Es geht darum, die wirtschaftliche und politische Vereinnahmung von Kultur und Bildung und ihre Kommerzialisierung zu verhindern. Die Schule braucht Freiheit; deshalb geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Befreiung des Geistes- und Schullebens aus der Umklammerung von Staat und Wirtschaft. Denn Staat und Wirtschaft wollen gemeinsam einen fragwürdigen Paradigmenwechsel mit den Freihandelsabkommen erreichen, der verhindert werden muss.

Zum Autor: Wilhelm Neurohr, Dipl-Ing. für Städtebau und Landesplanung, Personalratsvorsitzender und Agenda-21-Beauftragter der Kreisverwaltung Recklinghausen, in verschiedenen sozialen und zivilgesellschaftlichen Initiativen tätig sowie in anthroposophischen Zusammenhängen (Netzwerk soziale Dreigliederung).