Bildung: Reform oder Revolution

Ute Hallaschka

Dies sollte jedoch irgendwann zur generellen In-form-ation führen, zur Einsicht in das, was einen guten Unterricht ausmacht. Letzteres wieder wörtlich verstanden: ein Unter-richt ist kein Nach-richt-enwesen. Das altgediente Wort »Unterrichten« bedeutet vielmehr Grundlagen schaffen, den Unterbau des Verständnisses, der Kenntnis, so zu Verfügung zu stellen, dass der andere selbstständig urteils- und damit handlungsfähig wird. Das Ur-teil des Menschen als Teilnehmer am kosmischen Geschehen ist die Bildung seiner Auf-richt-igkeit – die Fähigkeit einen eigenen Standpunkt frei zu beziehen, auch Standvermögen zu zeigen. Das macht uns erkenntlich für den anderen. Diesen Standpunkt wiederum aufgeben zu können, zugunsten eines anderen, das macht uns sozialverträglich. Urteilskraft aus Einsichtsfähigkeit, mit diesem Bildungsziel als Ideal ist das Menschsein beschrieben. Wer wirklich Einsicht hat, der wird immer rücksichtsvoll, umsichtig – bezogen auf das, was er einsieht – urteilen. Wer wirklich urteilt, der tut es aus dem heraus, was er versteht. Dieses Ideal des freien Menschen – unterstellen wir ruhig einmal, dass es insgeheim als Kulturprojekt der Aufklärung durch die gesellschaftlichen Zeitläufe geht. Darin drückt sich Liebe zur Zukunft aus. Der Wunsch nach besserer Bildung für die Kinder meint ja nicht nur das künftige Wohlergehen der eigenen Familie, sondern bildet im Grunde die eigentliche Menschheitshoffnung. Dass sie es besser machen mögen, alles, was wir im Leben nicht geschafft haben, wo wir gesellschaftlich versagt haben, wo unsere Träume und Ideale an ihre Grenzen stießen.

Diese Hoffnung ist aktuell bedroht wie nie. Zukunftskonzepte werden entworfen in den Schranken von Furcht und Schrecken. Im Belagerungszustand der Sachzwänge. Zukunft wird nicht verstanden als Entwicklungsraum, Spielraum der Freiheit, sondern eher als eine Art Naturkatastrophe, vor der es sich zu schützen, oder sich dagegen zu wappnen gilt. In vorauseilender Ergebung verbarrikadieren wir uns in Panik. Hektische Reformbastelarbeit in immer kürzeren Intervallen, Profilerstellungen, die den Menschen maßschneidern und maßregeln nach den Kriterien industrieller Verwendbarkeit. Urteilskraft auf der Basis von Einsichtsfähigkeit vermitteln zu wollen, das ist angesichts der Lage entweder hoffnungslos veraltet, also reaktionär zu nennen, oder es ist avantgardistisch, also revolutionär. Das muss jeder pädagogisch Tätige für sich selbst beurteilen und entscheiden. Es ist die eigentliche Information, die er an seine Schüler weitergibt.

Jenseits der Methodendebatte wird der Schüler sich innerlich fragen: Hält mich mein Lehrer für ein Erdenprodukt, dass er nach Maßgabe der Porzellan-Manufaktur des heutigen Tages formt, und für wen hält er sich selbst – für schöpferisch oder für einen armen angestellten Tropf der Bildungsindustrie? Oder ist er etwa ein Revolutionär? Einer, der die Evolution der Erde für offen hält? Einer der nicht so befangen ist in den eigenen Ängsten und im eigenen Scheitern, dass er uns in ihren Formen einkerkern, und dafür vorbereiten will. Ist er einer, der die menschliche Freiheit so schätzt und einschätzt, dass er uns zutraut, dass wir es besser machen als er? Dann wird er uns in dieser Einsicht vertrauensvoll entgegenkommen.