Bildung vor dem Absturz ins Digi-Tal

Peter Hensinger

Die digitalen Medien sind mehr als nur Unterrichts-Hilfsmittel. Die IT-Unternehmerin Yvonne Hofstetter schreibt: »Mit der Digitalisierung verwandeln wir unser Leben, privat wie beruflich, in einen Riesencomputer. Alles wird gemessen, gespeichert, analysiert und prognostiziert, um es anschließend zu steuern und zu optimieren«. Grundlage dafür ist das Data-Mining – das Sammeln von Daten – für BigData-Analysen. Die Haupt-Schürfwerkzeuge dazu sind das Smartphone, Tablet und das WLAN-Netz.

Welche Mechanismen führen zu der großen Akzeptanz der digitalen Superwanzen, und vor allem dazu, dass schon die Kinder ihnen ausgeliefert werden, obwohl das Schädigungspotenzial inzwischen amtlich bestätigt ist?

Die deutsche Bundesregierung ließ die Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf Kinder in der BLIKK-Studie untersuchen, mit dem Ergebnis: »Die Folge sind Sprachentwicklungs- und Konzentrationsstörungen, körperliche Hyperaktivität, innere Unruhe bis hin zu aggressivem Verhalten« (ZDF Text, 29.05.2017). Und das Bundesministerium für Bildung und Forschung stellte im vergangenen Jahr fest: »Bei etwa der Hälfte der (Grundschul-)Kinder sind die Lernschwierigkeiten so erheblich, dass bei ihnen eine schulische Entwicklungsstörung (Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung) diagnostiziert wird.« Die IGLU-Studie zur Lesekompetenz bestätigt: 25 Prozent der deutschen Viertklässler können nicht lesen. Sie weist auf einen ursächlichen Zusammenhang hin: »Das Leseverhalten der Schülerinnen und Schüler ist auch im Kontext eines sich insgesamt ändernden Medienverhaltens von Kindern zu betrachten.« Aktuellen Befunden der KIM-Studie 2016 (Kinder, Internet, Medien) zufolge steht Lesen erst weit hinten auf der Liste der Aktivitäten, die von Kindern im Alter von 6 bis 13 Jahren jeden oder fast jeden Tag ausgeübt werden.

Wir haben es heute mit Schülern zu tun, deren Prägung schon als Kleinkind auf das Smartphone erfolgt, stark bedingt durch das Nutzerverhalten der Eltern, mit Schülern, deren sinnliche Erfahrungen oft weitgehend auf das Bildschirm-Wischen reduziert ist, und die dadurch der Natur entfremdet und früh auf den Konsum konditioniert werden. Das alles führt zu negativen Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung, das wissen wir gesichert aus der Neurobiologie. Die schulische Nutzung digitaler Medien vor dem 12. Lebensjahr gleicht diese Defizite nicht aus, sondern verstärkt sie. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen, dass digitale Medien im Unterricht, wenn sie nicht gezielt als Hilfsmittel eingesetzt werden, sondern zu Hauptmedien werden, das Lernen nicht verbessern, sondern verschlechtern. Diese negative Entwicklung wird sich beschleunigen, wenn nach dem Vorbild der Industrie 4.0 bei der geplanten »Digitalen Bildung« Computer, Software, eine Schulcloud und ihr Algorithmus das Erziehungsgeschehen autonom steuern sollen.

Geschäftsfeld Schule

Auf diese beunruhigenden Befunde haben die Mainstream-Medienpädagogen keine Antwort, die Zusammenhänge werden ausgeklammert. Es wird weiter für eine Digitalisierung getrommelt, als gäbe es diese Ergebnisse nicht.

Die im Berufsleben stattfindende Virtualisierung und Dehumanisierung wird in die Kitas hineinkopiert. Das Altersgemäße wird verdrängt, Schutzzonen werden aufgegeben, weil Kinder nicht mehr als Kinder, sondern als ökonomisch verwertbare Objekte gesehen werden. Dass sich schon Kinder in den sozialen Medien selbst inszenieren und vermarkten, zeigt, wie sie die Werte des Wettbewerbs bereits verinnerlicht haben und ihnen das Gefühl für die Privatsphäre fremd wird. Die gestohlene Kindheit verhindert die emotionale Entwicklung und die soziale und psychische Reifung. Die Anzahl verhaltensgestörter, nicht gemeinschafts- und lernfähiger Kinder steigt, nicht weil es an Intelligenz fehlt, sondern an mangelnder psychischer Reife (Winterhoff 2013). Bertelsmann, Google, Telekom, alle Bitkom-Unternehmen konzentrieren sich auf das Geschäftsfeld Schule, weil dort die Sozialisation stattfindet. Sie sitzen in den Beratungsgremien der Bundesregierung. Mit ausgeklügelten Methoden greift Google nach der Kontrolle des US-Bildungswesens. Die NZZ berichtet, wie auch in der Schweiz Google schon Schulen übernimmt, auch Samsung rüstet sich dafür. In Afrika versuchen Microsoft, Facebook und die Weltbank mit den sogenannten Brigde-Schulen das Schulsystem zu übernehmen. Lehrergewerkschaften verurteilen diese Entwicklung als neuen Kolonialismus.

Eine neue Religion

Betrachten wir die derzeitigen Veränderungen aus einer historischen Perspektive. Jahrhundertelang bestimmte ein allwissender Gott, was der Mensch zu tun hat, weil er unvollkommen, ja sündig sei. Die wissenschaftliche Revolution erforderte eine neue Ideologie, den Humanismus. Der Mensch und seine Erkenntnisse, sein freier Wille, standen im Mittelpunkt. Diese Position der Aufklärung wird nun durch eine neue Dehumanisierung abgelöst. Die Silicon-­Valley-Digitalisten postulieren, wie einst die Kirche: Der Mensch ist unvollkommen, fehlerbehaftet. Sie streben Vollkommenheit durch künstliche Intelligenz an. Logische Konsequenz: Menschliche Arbeit wird von Robotern übernommen, der Autofahrer ersetzt durch das autonome Auto, Alexa und Google Home übernehmen die Organisation des Alltages, die Lernfabrik 4.0., die Smart School, macht den »unvollkommenen« Lehrer überflüssig. Von Konzernen unter Ausschluss der Öffentlichkeit programmierte Algorithmen übernehmen die Steuerung gesellschaftlicher Prozesse. Der allwissende Gott wird durch Big Data ersetzt, die Aufklärung rückgängig gemacht.

Dataismus und Transhumanismus als neue Religionen sollen die Probleme der Menschheit lösen. In diesem Paradigmenwechsel befinden wir uns derzeit. Sein Credo: Die bürgerliche Demokratie ist eine Fehlentwicklung, die im vergangenen Jahrhundert ins Chaos führte. Eine technokratische Managerelite soll die Menschen auf Glück konditionieren und die Gesellschaft steuern. Dies wird Zug um Zug Realität, mit digitaler Bildung, der Smart City und dem Smart Home. Durch die neue Technologie werde es möglich, die Gesellschaft gleichsam mit dem Auge Gottes zu betrachten, schreibt der MIT-Professor Sandy Pentland in seinem Buch »Social Physics«. Das präzisere Abbild eines sozialen Systems soll in der Folge auch eine schnellere präzisere Steuerung und Kontrolle der Gesellschaft ermöglichen.

Politische Kontrolle will vom Untertanen und Konsumenten alles wissen, will soziale Bewegungen in Echtzeit erfassen und braucht Werkzeuge, sie zu manipulieren. Verwirklicht wird dies im digitalen Beurteilungssystem, das in China 2020 eingeführt wird. Und mit der »Digitalen Bildung« und dem eLearning wird dies auch bei uns klammheimlich installiert. Dafür werden derzeit zentrale Schulclouds angeboten, mit denen nicht nur Inhalte vorgegeben werden, sondern auch der Zugriff auf alle Schülerdaten möglich wird. Mit Bildungs­clouds sichern sich die Firmen die Daten. Verkauft wird es mit Framing 4.0.: Aus dem Überwachungsszenario wird ein »Lernökosystem«, das digitale Profil und der Avatar zum »Lernbuddy«. Die angebliche Individualisierung durch »Digitale Bildung« ist individuelles Profiling und Überwachung. Profiling nutzte die Polizei bis dato bei der Fahndung nach Straftätern! Das digitale Profil beschert dem Personalchef nicht nur den gläsernen Bewerber, die Algorithmen ermöglichen auch Vorhersagen über seine Entwicklung. Das alles sind Prämissen, die die Silicon-Valley-Propheten setzen, Politiker übernehmen sie unreflektiert und verkaufen die Digitalisierung als alternativlosen Fortschritt, für den man die Kinder erziehen müsse.

Selbstüberwachung als Überlebensstrategie

Die Frage stellt sich: Warum akzeptieren massenhaft Menschen Big Data, die Kontrolle und Manipulation durch diese Geräte, wie kommt es zur fatalistischen Selbstentmündigung? In der Selbstvermessungsbewegung (Quantified Self) oder auf Facebook wird die Selbstüberwachung, die Profilierung, das narzisstische Eigenmarketing, zum Lebensinhalt. Aus der defensiven Rechtfertigung »Ich habe nichts zu verbergen« wird ein offensives »Ich will mich gläsern präsentieren«. Dieser Paradigmenwechsel hat zwei Gründe; der erste ist ein ökonomischer: Bedingt durch den Abstieg in befristete, prekäre Arbeitsverhältnisse oder die Arbeitslosigkeit sehen sich die Menschen unter dem Zwang, »die eigene Persönlichkeit effizienzgesteuert zu optimieren« (Koppetsch 2013). Selbst Professoren müssen heute beim Selbst-Profiling mitmachen, um an Drittmittel zu kommen. Dieses Einverständnis in die Aufhebung der Privatheit entspricht den Anforderungen, sich selbst als Ware mit offengelegten Eigenschaften feilzubieten. Der zweite Grund ist die Suche nach Werten und Sicherheit. Man befindet sich in einer in allen Bereichen unsicheren Welt, in der eine Wettbewerbs-, Wachstums-, Steigerungs- und Gewaltlogik herrschen. Erschöpfte, verunsicherte und orientierungslose Menschen sehnen sich nach Orientierung. Die digitalen Geräte als komfortable, suggestive Technologien geben uns ein Gefühl der Beschreibung der objektiven Realität, wie sie ist, wie ich bin. Mit dem Fitbittracker oder der Gesundheitsapp können wir in Koexistenz treten. Sie werden zum Beziehungspartner. Die Lernsoftware vermisst und bewertet gezielt, scheinbar unbestechlich und individuell einen Schüler. Der Lernroboter wird zum allzeitbereiten Freund. Das digitale Profil, das diese Maschinen erzeugen, gibt uns scheinbar Grundlagen für objektive Entscheidungen zurück.

Die neue Religion ist der Dataismus, der allwissende Gott ist ein Algorithmus, seine Schöpfung ist der Homo digitalis. Das Menschliche wird auf das Daten-Ich reduziert. Das Neue: Die Menschen stehen nicht mehr in Opposition zum Big Data-Überwachungsstaat, sondern nehmen ihm seine Arbeit ab – eine Meisterleistung der Psychopolitik und des Marketings.

Die Infrastruktur für die Durchsetzung dieser smarten Diktatur wird derzeit mit der Mobilfunkgeneration 5G und den Wlans aufgebaut. Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar schreibt dazu: »Bald werden unsere Städte und Häuser mit intelligenten Augen ausgestattet sein, und überall werden Sensoren unseren Alltag prägen und in unsere privatesten Bereiche vordringen. Wir sollten uns darüber klar sein, dass sich dann ein wesentliches Prinzip umkehrt: Nicht mehr wir machen die Bilder, sondern wir werden von Bildern erfasst und gedeutet. Wenn dieser Strom aus visuellen Datenanalysen seinen Fokus auf uns richtet, werden es diese Bilder sein, die über uns bestimmen oder uns richten.« Yogeshwar ruft zum Widerstand auf.

Die Einübung in die Akzeptanz der smarten Diktatur verlegt die Mainstream-Medienpädagogik nun schon in den Kindergarten und die Schule, und viele Eltern, selbst von der Wachstums- und Wettbewerbsideologie infiziert, ziehen mit.

Die Bildung stürzt ab ins Digi-Tal. So wird den Kindern die Kindheit, und damit auch die Zukunft genommen. Weil sie diesen Absturz nicht akzeptieren, haben Hochschullehrer und Pädagogen das Bündnis für humane Bildung gegründet. Sie wollen Lehrer, Erzieher und Eltern für diese Entwicklung sensibilisieren.

Zum Autor: Peter Hensinger leitet bei der Umwelt- und Verbraucherorganisation »Diagnose-Funk e.V.« den Bereich Wissenschaft. Kontakt: peter.hensinger@diagnose-funk.de

www.aufwach-s-en.de | www.diagnose-funk.de

Literatur: Y. Hofstetter: Das Ende der Demokratie. Wie die künstliche Intelligenz die Politik übernimmt und uns entmündigt, München 2016; C. Koppetsch: Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte, Frankfurt/Main 2013; M. Winterhoff: SOS-Kinderseele. Was die emotionale und soziale Entwicklung unserer Kinder gefährdet – und was wir dagegen tun können, München 2013; R. Yogeshwar: Nächste Ausfahrt Zukunft. Geschichten aus einer Welt im Wandel, Köln 2017