In Bewegung

Denkanstöße und Stolpersteine

Henning Kullak-Ublick

Wie verabschiedet man sich von einem geschätzten Kollegen, dessen intelligenter Originalität und Streitbarkeit im Umgang mit der Anthroposophie sowie der sie in ihrem Namen tragenden Gesellschaft und Bewegung man über Jahrzehnte spannende Denkanstöße und Stolpersteine zu verdanken hat? Wie verabschiedet man sich von einem Kollegen, mit dem es fast vom ersten Tag unserer Zusammenarbeit inhaltliche Spannungslinien gab, die zuletzt zu einem offenen Konflikt wurden, der tiefe Spuren in der Redaktionsarbeit dieser Zeitschrift hinterlassen hat? Wie verabschiedet man sich von einem Menschen, der nicht nur leidenschaftlich hohe Berge erklimmt, sondern auch gerne aus dieser Perspektive über die Wanderungen anderer Zeitgenossen durch beschattetere Täler der Erkenntnis reflektiert?

Dazu muss man (also ich) vor allem und zuerst einmal über den Schatten des heute fast allgegenwärtigen Lagerdenkens springen. Ich spreche von Lorenzo Ravagli, der dreiunddreißig Jahre lang neben zahlreichen anderen publizistischen Tätigkeiten zuerst beratend für den Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS), dann als freier Mitarbeiter der Erziehungskunst gearbeitet hat. Ravagli scheute sich nie, in gesellschaftlichen Debatten mit scharfer Feder Position zu beziehen, was ihm oft nicht weniger scharfe Repliken eintrug. Als Beauftragter des Bundes der Freien Waldorfschulen für Paradigmenfragen (2000 – 2008) setzte er sich in Zusammenarbeit mit dem damaligen Justiziar des BdFWS Hans-Jürgen Bader und Manfred Leist mit den Rassismus-Vorwürfen gegen Rudolf Steiner auseinander. Die Autoren versuchten in zwei Publikationen, die betreffenden Zitate aus Steiners Gesamtwerk so zu kontextualisieren, dass deutlich wurde, dass Steiner das genaue Gegenteil eines Rassisten oder Antisemiten war. So richtig das als Schlussfolgerung in der Gesamtschau von Steiners Lebenswerk ist, kann es doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sehr wohl einzelne rassistisch diskriminierende Aussprüche von Steiner gibt, die nicht weg zu kontextualisieren sind und von denen sich der BdFWS mit der Stuttgarter Erklärung (2007 und 2020) mittlerweile unzweideutig distanziert hat. Aus seiner Arbeit an Paradigmenfragen folgten zwei weitere Publikationen Ravaglis: eine zur Geschichte des völkisch-nationalsozialistischen Kampfes gegen die Anthroposophie sowie eine scharfe Replik auf Helmut Zanders Werk Anthroposophie in Deutschland. Zuletzt erschien sein dreibändiges Werk Selbsterkenntnis in der Geschichte über Anthroposophie und Anthroposophische Gesellschaft im 20. Jahrhundert.

Für die Erziehungskunst war Lorenzo Ravagli seit 2013 hauptberuflich tätig. Er verantwortete neben dem Redigat und zahlreichen eigenen Artikeln insbesondere die Webseite der Zeitschrift. Bis vor Kurzem waren im Online-Archiv dank Ravagli sogar sämtliche Ausgaben der Zeitschrift seit ihren allerersten Anfängen im Jahr 1927 verfügbar – ein Schatz nicht nur zur allmählichen Evolution unserer pädagogischen Ideen, sondern überhaupt eine Fundgrube zum Bewusstseinswandel der letzten hundert Jahre. Schade, dass online derzeit nur noch Artikel abrufbar sind, die nach 2010 veröffentlicht wurden.

Ich selbst wurde als noch einigermaßen junger Lehrer durch das von ihm ab 1993 herausgegebene Jahrbuch für anthroposophische Kritik auf Ravagli aufmerksam, das, wie auch info3 und die Flensburger Hefte, durch seine unkonventionellen, mitunter frechen, aber fast immer intelligenten Beiträge publizistisch das freie Geistesleben in die ansonsten weitgehend in Konventionen erstarrte anthroposophische Bewegung einführte.

Lorenzo, auch dir wünsche ich ein fröhliches Schattenspringen! Du hast die Erziehungskunst über viele Jahre in enger Zusammenarbeit mit Mathias Maurer mitgeprägt. Was ich an der Redaktion, an euch, immer geschätzt habe, war das tiefe Bekenntnis zu der freiheitlichen Grundlage der Waldorfpädagogik, die immer auf das Werdende im Menschen setzt, bei den Kindern und Jugendlichen ebenso wie bei uns Erwachsenen, die sie ein Stück ihres Lebensweges begleiten dürfen. Diese Überzeugung hat eine nachhaltige Spur in der Waldorfschulbewegung hinterlassen – und das ist wichtiger als manch eine Debatte der letzten drei Jahre.

Die beiden am Ende des zweiten Absatzes genannten Publikationen Ravaglis sind:

Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004 | Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes »Anthroposophie in Deutschland«, Berlin 2009

Kommentare

Es sind noch keine Kommentare vorhanden.

Kommentar hinzufügen

0 / 2000

Vielen Dank für Ihren Kommentar. Dieser wird nach Prüfung durch die Administrator:innen freigeschaltet.