Die 68er: Impulse und Wirkungen bis heute

Christoph Strawe

Der Soziologe Erwin K. Scheuch bezeichnete die antiautoritäre »Neue Linke«, deren Übervater Rudi Dutschke wurde, als »die Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft«. Weiter noch geht heute die AfD, indem sie sämtlichen »Altparteien« unterstellt, sie seien mit dem Bazillus der 68er infiziert. Sich selbst sieht die neue Rechte berufen, konservative Werte zu restaurieren.

Die Bezeichnung 68er-Bewegung ist ungenau. Denn es begann früher, nimmt spätestens 1967 Fahrt auf, kulminiert im Jahr 1968 und setzt sich noch weiter fort. Man sollte die 68er – oft auch als APO (Außerparlamentarische Opposition) bezeichnet – in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit betrachten. Die 68er-Bewegung nahm ihren Anfang als anti­-

rassistische Bürgerbewegung und Massenprotest gegen den Vietnam-Krieg in den USA und verbreitete sich rasch in zahlreichen Ländern. In Deutschland eskalierte sie 1967 mit dem Schah-Besuch, dem brutalen Einsatz von Polizei und Schlägertrupps des Potentaten gegen die Demonstranten, für die Persien zum Beispiel für das Wirken des US-Imperialismus in der Dritten Welt geworden war. Die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg brachte das Fass zum Überlaufen, riss viele Menschen aus ihrem politischen Schlummer und veranlasste sie dazu, auf die Straße zu gehen.

Neues Lebensgefühl und Revolte

Die 68er-Bewegung war zugleich Ausdruck und Katalysator einer Bewusstseinsveränderung. So sehr sie sich als »politisch« verstand und die politische Dimension selbst des scheinbar Unpolitischsten betonte, so war sie doch vor allem eine soziale Kulturbewegung, die von Wandel des Bewusstseins und Lebensstilen getragen war, vor allem in der Jugend. Die Beatles, die dem neuen Lebensgefühl Ausdruck gaben, das Festival von Woodstock, die Hippie-Bewegung, die Parole »Make Love not War« und die sexuelle Revolution – das sind alles Stichworte dafür.

Auch wenn nicht alle jungen Menschen in gleicher Weise erfasst wurden, prägten die 68er eine ganze Generation. Erhebliche Teile der Bevölkerung standen allerdings der Bewegung mit Vorbehalten gegenüber. Das gilt jedenfalls für Deutschland und galt speziell für die »Frontstadt« Berlin, wo die Mauer ohnehin eine antikommunistisch-antisozialistische Stimmung hatte entstehen lassen. Der Satz »Geht doch rüber, wenn es Euch hier nicht gefällt« – gemeint war die DDR – war wohl der häufigste, den progressive Studenten und Schüler bei Diskussionen auf öffentlichen Plätzen zu hören bekamen. Anders im Pariser Mai 1968, als die Parole »Die Phantasie an die Macht« ertönte und die Solidarität der Arbeiter in Streiks kulminierte.

Am 4. April 1968 wurde Martin Luther King ermordet, am 11. April kam es zu einem Attentat auf Rudi Dutschke, bei dem er Hirnverletzungen erlitt, die 1979 seinen frühen Tod verursachten. Das Attentat wurde der »Hetze« der Springer-Presse zugeschrieben. In der Tat hatten in den Springer-Gazetten Schlagzeilen gestanden wie zum Beispiel »Unruhe­-

stifter unter Studenten ausmerzen«. Die Empörung über das Attentat führte zu den »Osterunruhen«, bei denen in verschiedenen Städten Demonstranten versuchten, die Auslieferung der Bild-Zeitung zu verhindern. Das Erleben eigener Ohnmacht trug dazu bei, dass diejenigen Kräfte erstarkten, die es nicht bei der Methode begrenzter Regelverletzung durch Sit-Ins, Go-Ins u.ä. bewenden lassen wollten, sondern Gewalt gegen Personen propagierten und zunehmend auch praktizierten. Das endete im RAF-Terror. Je mehr solche Tendenzen wuchsen, verminderte sich auch die Sympathie, die liberale Kräfte der »antiautoritären« Linken bis dahin entgegengebracht hatten.

Vom »Prager Frühling« bis zu den Grünen

Zur 68er Bewegung gehört auch der »Prager Frühling«. Große Hoffnungen richteten sich auf die Ereignisse in der CSSR, besonders natürlich in den Ländern des »real existierenden Sozialismus«. Am 21. August rollten schließlich in Prag die Panzer. Der Traum vom »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« schien ausgeträumt. Auch hatte man sich damals nicht hinreichend durch den »Prager Frühling« dazu inspirieren lassen, konsequenter nach tragfähigen Alternativen zu den in Ost und West herrschenden Gesellschaftsordnungen zu suchen. Diese Suche war im tschechischen Aufbruch durchaus angelegt. Implizit enthielt er das Thema einer sozialen Dreigliederung, die Freiheit und Sozialismus auf der Basis der Menschenrechte miteinander verbindet. Einige Prager Reformer fanden sich später mit Menschen aus der Bewegung für soziale Dreigliederung in Achberg zusammen, einer der Wirkungsstätten auch von Joseph Beuys, ebenfalls einem aktiven »68er«.

In der Folgezeit verstärkten sich die Zersplitterungstendenzen in der Bewegung. Im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der lange ihr stärkster Motor war, gab es Streit zwischen der antiautoritär-libertär gesinnten Mehrheit mit ihren oft provokativen Aktionsformen und der traditionsmarxistischen, »gewerkschaftlich orientierten« Minderheit mit ihren Illusionen über den »real existierenden Sozialismus«. 1970 löste sich der SDS auf. Nun bekämpften sich die von Altkommunisten neu begründete Kommunistische Partei und der ihr nahestehende – zugleich mit dem SHB (Sozialdemokratischer Hochschulbund) verbündete – MSB Spartakus und maoistisch orientierte kommunistische Gruppierungen wie Kommunistische Partei Deutschland Aufbauorganisation, Kommunistischer Bund Westdeutschland, Kommunistische Partei Marxisten-Leninisten. Ideologisierung und Sektierertum nahmen der Bewegung den Schwung. Daneben entstanden diverse Basis- und »Sponti«gruppen.

»Marsch durch die Institutionen« – Alternativen in den Nischen

Aufgrund der Zersplitterung sahen viele im »Marsch durch die Institutionen«, etwa durch die Parteien und ihre Jugendverbände, eine Alternative, um von innen heraus etwas zu verändern. Dadurch wurden manche Impulse dort wirksam, es blieben aber auch manche Ideale bei diesem »Marsch« auf der Strecke. Andere wieder versuchten Alternativen im Mesosozialen, »in den Nischen« zu verwirklichen. Dabei entstanden z.B. zahlreiche Bürgerinitiativen und selbstverwaltete Betriebe. Auch der Boom der Waldorfschulgründungen seit den 1968er Jahren lässt sich hier teilweise einordnen. Einzelne entdeckten die Anthroposophie und die soziale Dreigliederung – wie z.B. Joseph Huber, der im »Kursbuch« 1979 einen launigen, aber sehr positiven Artikel »Astral-Marx. Über Anthroposophie, einen gewissen Marxismus und andere Alternativen« veröffentlichte.

Auch die Gründung der Partei der Grünen 1980 und die nicht zuletzt dadurch bewirkte stärkere Beachtung des Umweltthemas in der Gesellschaft ist eine späte Frucht der 68er. Cohn-Bendit, der Heros des Pariser Mai spielte in dieser Partei eine wichtige Rolle, genauso wie der frühere »Sponti« Joschka Fischer. Auch Aktivisten der sozialen Dreigliederung wie Gerald Häfner waren an ihrer Gründung beteiligt. Heute werfen manche Alt-68er den Grünen Verbürgerlichung und Verrat ihrer friedenspolitischen Impulse vor, können aber auch nicht bestreiten, dass sie in der Gesellschaft angekommen sind.

Motive und Impulse der 68er Bewegung

Die 68er Bewegung hat gewiss viele Schwächen gehabt. Aber positiv und weiterführend an ihr ist das Wachwerden für weltweite Probleme und die Solidarität mit den nächsten und den fernsten Betroffenen. Die Misere der Drittwelt­länder, die globalen Wirkungen einer primär am Profit orientierten Ökonomie, der Hunger, grausame Kriege – sichtbar am Leid der Menschen in Vietnam – trieben die 68er um. Denn diese Vorgänge sprachen allem Hohn, was an Idealen in ihnen lebte. Daraus entstand Verantwortungsgefühl: Man wollte etwas unternehmen und verändern. In Deutschland spielte die nationalsozialistische Vergangenheit eine besondere Rolle, die Verdrängung, die man der älteren Generation vorwarf, der Zorn über die Duldung alter Nazis im Staatsapparat. Die Besorgnis über die Möglichkeit eines Rückfalls in eine unselige Vergangenheit war sicher auch ein Hauptmotiv für die breite Bewegung gegen die Notstandsgesetze. Die 68er leisteten wichtige Beiträge zur Auseinandersetzung mit antidemokratischen und faschistischen Tendenzen. Doch erlagen viele von ihnen der Fehleinschätzung, die Bundesrepublik Deutschland sei ein »präfaschistischer« Staat ge- worden. Ein häufig gemachter Vorwurf lautete, das Bestehende sei nur formal demokratisch, Demokratie bloße Fassade. So wahr es bis heute ist, dass Interessengruppen sie als eine solche Fassade zu missbrauchen versuchen, so war doch diese Pauschalkritik für den Kampf um Grund- und Menschenrechte nicht hilfreich.

Zu den Verdiensten der 68er-Bewegung gehört auch die Entwicklung eines kritischen Bewusstseins gegenüber Bildung und Wissenschaft. Man erkannte das Problem gleicher Bildungschancen. Man nahm Anstoß an der Verstaubtheit überkommener Schul- und Universitätsstrukturen: Die »Ordinarien-Universität« geriet in die Kritik. Berühmt ist bis heute eine Szene an der Hamburger Universität: Studenten zeigen bei der Rektoratsübergabe ein Transparent »Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren«. Es ging um gesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft. Man sah mit Bertolt Brecht die Gefahr, aus den Wissenschaftlern werde ein »Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können«. Man kämpfte gegen »Kriegsforschung und Vernichtungswissenschaft«. Im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz werden wir in vielem auf die damalige Kritik der instrumentellen Vernunft aufbauen können.

Auf der Suche nach dem Weg zu einer Gesellschaft der Mündigen

Der Grundimpuls der 68er Bewegung war »antiautoritär«, gegen Vormundschaft gerichtet, d.h. er war ein Mündigkeitsimpuls. Was wir soziale Dreigliederung nennen, ist im Kern der Versuch, die Konsequenzen, die sich aus der Mündigkeit für die soziale Struktur ergeben, zu beschreiben und umzusetzen. Bei den 68ern lebten solche Motive untergründig – ebenso wie in den Bürgerbewegungen 1989 und der Bewegung für eine gerechtere Globalisierung seit 1999 – sie wurden aber nur von Einzelnen voll bewusst erlebt. So konnte das alte Einheitsbild von Staat und Gesellschaft nicht wirklich überwunden werden.

Zu wenig wird bis heute danach gefragt, wie gesellschaftliche Strukturen entstehen können, die es ermöglichen, dass die Menschen ihre Verhältnisse in Selbstverwaltung gestalten. Machtkonzentration an sich ist ein Problem. Wen die Macht nur stört, wenn er sie selbst nicht hat, ist tatsächlich höchstens formal ein Demokrat.

Mag man den 68ern auch manche Inkonsequenzen und Fehler vorwerfen, so darf man doch sagen, dass sie in vielerlei Hinsicht, oft mehr indirekt, als direkt, Fortschritte bewirkt haben: Schritte in Richtung Gleichstellung der Frauen, Änderungen beim Scheidungsrecht und bei der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Längst nicht alles, aber Vieles ist freier geworden.

So hat die 68er Bewegung tiefe Wirkungen hinterlassen. Sie hat nicht nur die Fenster geöffnet, um den Mief der Adenauer-Zeit entweichen zu lassen. Es darf auch stark bezweifelt werden, dass es ohne die 68er eine sozialliberale Koalition und einen Kanzler Willy Brandt gegeben hätte. Ohne dessen neue Ostpolitik ist wiederum der Umbruch in Europa 1989 schwer denkbar. Und ohne die Wiederbelebung der Kapitalismus-Kritik durch die 68er wäre die Bewegung der globalen Zivilgesellschaft gegen die elitäre Globalisierung seit 1999 wohl kaum möglich gewesen.

Viele Menschen haben aus der Teilnahme an dieser Bewegung entscheidende Anstöße für ihre Biografie und ihr soziales Engagement gewonnen, darunter viele spätere Waldorflehrer und -eltern.

Zum Autor: Dr. Christoph Strawe habilitierte sich 1986 in Jyväskylä mit einer Arbeit über »Marxismus und Anthroposophie« (Klett-Cotta) begründete die Initiative Netzwerk Dreigliederung und ist Mitbegründer des Instituts für soziale Gegenwartsfragen, dessen Geschäftsführer er bis heute ist. Er lehrte an der Freien Hochschule Stuttgart.

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