Die technologische Sphinx

Andreas Luckner

Nicht nur ein Virus hat sich ja seit letztem Jahr weltweit verbreitet, auch die Digitalisierung aller Lebensbereiche erfuhr einhergehend damit weltweit einen enormen Schub, nicht zuletzt durch das heimische Büro-, Unterrichts- und Bestellungswesen. Auch wenn dieser Prozess unheimlich anmutet, ist er doch, wie Hübner zeigt, nur die Konsequenz eines bestimmten, für die Neuzeit dominanten Denkens in Problemen und Problemlösungen, zu verwaltenden Beständen und Ressourcen, Effektivitäten und Effizienzen, kurz: des technischen Denkens.

Was das Menschsein ausmacht, wird dysfunktional

Dieses Denken hat sich spätestens dann nicht mehr im Griff, wenn es sich auf das denkende Wesen namens Mensch zurückwendet, wie sich dies im Aufkommen des sogenannten Transhumanismus seit ein paar Jahrzehnten mehr und mehr zeigt. Der Transhumanismus, einer der Hauptgegenstände, mit dem Hübner sich im Buch auseinandersetzt, möchte die Entwicklung der Menschheit vorantreiben, indem er deren angeblich unzulängliche physische Existenzform technologisch zu verbessern trachtet. Alter, Krankheit und Tod erscheinen durch die transhumanistische Brille als letztlich zu überwindende Dysfunktionalitäten; die Lösung aller damit verbundenen Probleme bestünde in letzter Konsequenz darin, sich von der misslichen Leiblichkeit zu lösen. Dies wird in maximal expliziter Weise vorgedacht in der wilden Unsterblichkeitsfantasie vom mind-uploading, dem »Hochladen« des Bewusstseins in ein technisches Hypersystem, wie es etwa Ray Kurzweil, einer der führenden Transhumanisten und technischer Direktor bei Google für die Mitte des 21. Jahrhunderts vorhersagt. Dieses singuläre Ereignis des Entstehens einer universalen künstlichen Intelligenz, in der die individuellen Menschengeister Unsterblichkeit erlangen, indem sie in dieser Intelligenz aufgehen, ist aber, wie Hübner deutlich zeigt, nichts anderes als eine »Unsterblichkeit des Toten«. In Wahrheit ist diese Singularität der Zielpunkt eines gegen jede Verjüngung und Erneuerung gerichteten Unternehmens, so, als wolle man die lebenden Individuen »in Datenspeichern für das ewige Leben einbalsamieren«. Es ist eben nur eine halbe Wahrheit, dass »alles« sich so rasend schnell durch die Technologien verändert. Tatsächlich, und das ist die andere Hälfte der Wahrheit, wurden in technischen Mechanismen und Systemen aller Zeiten menschliche Lebens- und Handlungsformen abgelegt, materialisiert und damit stillgestellt: »Menschliche Gedanken gerinnen in die […] Maschine«, so Hübner, und treten uns als verselbständigte gegenüber.

Wie vor einer Sphinx stehen wir Menschen hier vor der Technik in ihrer neuzeitlichen, herausfordernden Erscheinungsform und müssen uns von ihr fragen lassen, wer wir eigentlich dem Wesen nach sind. Und wie die Sphinx in der griechischen Mythologie denjenigen zerreißt und vernichtet, der auf diese Wesens-Frage keine Antwort weiß, so auch hier und heute: Die vielbeschworene Macht, die Maschinen, Systeme und Hypersysteme der Digitalisierung über uns haben, wird ihnen von uns zugestanden und dies um so mehr, je weniger wir auf die Wesensfrage eine Antwort zu geben imstande sind. Wie Hübner in kenntnisreichen und umfangreichen technikgeschichtlichen und -philosophischen Betrachtungen darlegt, stellt der Transhumanismus nur die letzte Konsequenz des materialistisch-technischen Denkens dar, das sich durch die Algorithmen der Künstlichen Intelligenz auf eine Mechanisierung des Denkens selbst richtet (auch und gerade in den neuronalen Netzen, deren Funktionsweise Hübner in auch für den technischen Laien nachvollziehbarer Weise erklärt). Wenn das Denken sich mehr und mehr auf seine technische Art und Weise reduzieren ließe, verlöre der Mensch allein schon dadurch sein Wesen als individualisierte Geistigkeit, da braucht er sich gar nicht erst irgendwo hoch- oder runterzuladen.

Mechanistisches Denken

Es ist die Einengung des Denkens rein auf Problemlösungs­strategien, das zum Verlust des Menschenwesens führt und genau in diesem Verlust liegt die Grund-Gefahr, von der die vielen offenkundigen Krisen in ökologischer, medizinischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht nur ein
Ausdruck sind. Die Krisen unserer Zeit offenbaren eine Krise des Denkens. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes notwendig, hierüber zur Besinnung zu kommen. »Das Wesen der Technik ist nichts Technisches« schrieb Martin Heidegger drei Jahrzehnte nach Rudolf Steiners Einsichten in diese Zusammenhänge, die Edwin Hübner in den mutig-esoterischen Teilen seines Buches sehr gut nachvollziehbar und daher auch für eine Philosophie der Technik anschlussfähig macht. Generell kann man sagen: Hübner gelingen in diesem Buch eingängige, neu gegriffene Darstellungen anthroposophischer Einsichten in das Wesen des Menschen, auch Nicht-Anthroposophen werden damit etwas anfangen können.

Gegenbild Anthroposophie

Angefangen bei der Darstellung der phänomenologischen Methode (sehr interessant und zukunftsträchtig hier die Brückenschläge zur Leibphänomenologie Merleau-Pontys), über die Darstellung der Wesensglieder, mithin der Unterscheidung von Leib, Seele und (eigenständigem) Geist, weiter über die Themen Reinkarnation und Unsterblichkeit des geistigen Wesens bis hin zu den höheren, zu entwickelnden Stufen des Denkens von Imagination, Inspiration und Intuition entsteht hier ein anthroposophisches Gegenbild zum Transhumanismus.

Zugleich bilden diese Abschnitte des Buches auch für sich genommen eine erfreulich frische Einführung in die Anthroposophie. Mit »Ahriman« und »Luzifer« sind die beiden wesenhaften Gestaltungskräfte in der entfesselten technologischen Entwicklung von Steiner benannt und in ihrer Wirkweise an vielen Stellen seines Werkes beschrieben worden, von denen Hübners Buch, vor allem zum Ende hin, eine große Auswahl anbietet. Es gibt ja gegenwärtig zwei Tendenzen, die es unmöglich machen, das Verhältnis von Mensch und Technik, genauer zwischen menschlichem Geist und künstlicher Intelligenz, in adäquater Weise zu bestimmen: Die erste Tendenz ist die Dämonisierung der Technik als einer in »eigendynamischer« Weise sich entwickelnden Macht; damit einher gehen zumeist Angst- und damit Fluchtreflexe, so als wenn dadurch der Technik nicht genau die Wirkmacht gewährt würde, der man sich eigentlich entziehen möchte. Die technologische Sphinx, mit anderen Worten, stellt uns dann mit ihren Löwen-Beinen nach, durch die sie immer schneller sein wird als der technikaversive (»luziferische«) Mensch. Die zweite Tendenz aber ist mindestens ebenso fatal: Sie besteht darin, die Gefahren, die mit der technologischen Entwicklung verbunden sind, wiederum nur als technisch zu lösende Probleme aufzufassen und damit gerade für die Spezifik des technischen Denkens, das dies alles erzeugt und aus sich heraussetzt, blind zu werden. Um im Bild zu bleiben: Die technologische Sphinx dürfte mit dieser zweiten, »ahrimanischen« Tendenz ganz zufrieden sein, insofern der Mensch als geistiges Wesen solchermaßen sich selbst an sein transhumanistisches Ende bringt. Es ist doch klar: Es gibt alle diese Technologien nicht ohne den Menschen; der Mensch ist notwendigerweise ein technisch denkendes Wesen, aber er ist es eben nicht nur und auch nicht im Grunde. Und er wird, wie es im steinerschen Bild des Menschheitsrepräsentanten gezeigt ist, nur dann in seiner Selbstentwicklung fortschreiten, wenn er den beiden Kräften, der festigenden, materialisierenden und der lösenden, ent­materialisierenden, ihren jeweiligen Platz anweist.

Der Leib gehört zum Menschen

Ein Mensch kann nur an seiner eigenen Leiblichkeit seiner selbst als eines individuell-geistigen Wesens bewusst werden und da sein individueller Leib wiederum nichts anderes ist, als die »Fließform des Denkens«, organisiert letztlich von einer sich inkarnierenden individuell-geistigen Instanz, ist es gerade die Leiblichkeit, die sich heute angesichts der technologischen Sphinx als wesenhaft dem Menschen zugehörig erweist. Das ist es, was man ex negativo gerade am technoiden Transhumanismus unserer Zeit erfahren kann.

Wo aber die Gefahr ist, wächst, mit Hölderlin gesprochen, das Rettende auch: Das Denken als selbstgegründete wesentliche Tätigkeit des Menschen kann sich auf sich selber richten und sich einengen wie im Transhumanismus, oder aber sich weiten im Sinne der Anthroposophie: Der Idee der technisch induzierten Transformation des individuellen Menschen von außen, wie sie im Transhumanismus angestrebt wird, kann die Idee einer individuellen Selbsttransformation des Menschen, wie sie für die Anthroposophie charakteristisch ist, ersetzt werden.

Selbstverwandlung durch Kunst

Diese Selbsttransformation findet auf dem Boden der Kunst, nicht auf dem Boden der Technik statt. Je mehr wir die Technisierung unseres Lebens und Handelns vorantreiben, desto mehr Erfahrungsräume des Leiblichen muss es geben, damit hier eine gesunde Balance entstehen kann. Vermutlich hatte keine Zeit vor der unsrigen eine solch große Chance, ein Bewusstsein von der Bedeutung des (physisch) Leiblichen zu entwickeln. »Die Entwicklung des Humanen inmitten der digitalen Welt«, wie Hübners Buch ja im Untertitel heißt, würde daher wahre Zeitgenossenschaft jenseits von Affirmation oder Aversion in Bezug auf die Technik bedeuten. Sie bestünde Hübner zu Folge in der Aktivierung derjenigen Kräfte, die durch die Heraussetzungen des Technischen aus dem Menschenwesen freigeworden sind und die nicht wiederum primär in der Entwicklung und Nutzung von Technologien fließen sollte, durch welche diese Kräfte vielmehr abgelähmt werden. Sie bestünde in der Aktivierung der Kräfte in allen Künsten inklusive der Heil- und Erziehungskunst, der Dreigliederung des Sozialen und der Entwicklung der höheren Erkenntniskräfte. Die Fülle an Einsichten in den Zusammenhang von Mensch und Technik, die dieses Buch bietet, kann hier nur angedeutet werden. Es kann in fast jeder Hinsicht überzeugen, auch und gerade in der gelingenden sprachlichen Neufassung der anthroposophischen Einsichten Steiners. Selbst der apokalyptische Zug, den das es zum Ende hinbekommt, scheint mir treffend zu sein, insofern wir es heute weltweit mit einer Herausforderung des menschlichen Denkens auch und gerade über das Wesen des Technischen zu tun haben. Hübner zeichnet hier – unterstützt von lang und länger werdenden Steinerzitaten – eher ein düsteres Bild. Aber Mut zur Hoffnung muss man doch haben: Wie im antiken Mythos wird sich die Sphinx in den Abgrund stürzen, wenn die Menschen ihr Wesen als Denkende ergreifen, eine Gelassenheit zu den technischen Dingen einnehmen, ihre kreativen Kräfte in Kunst, Meditation und begrifflicher Arbeit entwickeln und damit eine Antwort auf die Frage nach ihren eigenen Wesen finden.

Zum Autor: Dr. Andreas Luckner ist Professor für Praktische Philosophie / Ethik, Philosophie der Erziehung, Phänomenologie, Philosophie der Technik und Ästhetik an der Universität Stuttgart.