Digitalisierung und Bildung

Wilfried Gabriel

Der Begriff »Digitalisierung« erzeugt vielfältige Assoziationen: Im Alltag denkt man z.B. an große Bildschirme für den flexibel streambaren Medienkonsum oder kleine Alleskönner, wie Smartphones mit ihren vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten; unter sozialen Aspekten an weitreichend vernetzte Kommunikationsmöglichkeiten, aber auch an Datenschutz und Datenmissbrauch; wirtschaftlich gesehen assoziiert man Online-Handel, künstliche Intelligenz und Roboter in menschenleeren Fabriken u.v.m. Es gibt Diskussionen um die Schnittstellen und künftigen Verbindungen von Menschen und Maschine, aber auch die diffuse Angst, dass Letztere in der Zukunft womöglich intelligenter werden als ihre Erzeuger.

Bezeichnete ursprünglich Digitalisierung nichts weiter als die Umwandlung von analogen Signalen in digitale Informationen, so bezieht sich heute der »digitale Wandel« auf fast alle gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse bis hin zu einem neuen Life­style im komplett automatisiertem Heim (Smart Home). Dabei läuft die Diskussion um ein entsprechendes Bildungskonzept der rasanten Entwicklung der modernen Technik ständig hinterher. Bevor entsprechende Ansätze in den Schulalltag Einzug halten, scheinen sie heute schon veraltet, wo es doch nötig wäre, die Technik von morgen schon in den Blick zu nehmen.

Technik und Bildung

Der Nachweis bestimmter technischer Artefakte ist in der Archäologie gleichbedeutend mit dem Nachweis kultureller Niveaustufen. In einem ursprünglichen Sinn sind daher »Technik«, in der Antike als »techne«, Kunstfertigkeit verstanden und »Kultur« – in weiter Auslegung auch »Bildung« – verschwisterte Faktoren und Ausdruck der Entwicklung der Menschheit. Durch die Technik erweitert der Mensch als »unspezialisiertes biologisches Mängelwesen« (A. Gehlen) seine Handlungsmöglichkeiten, formt seine Umwelt zu seinem Zwecke und erobert sich die Welt immer schneller mit immer größerer Reichweite. Den augenscheinlichen Verbesserungen und Vorteilen der Technisierung: Befreiung von schwerer körperlicher Arbeit, Erfüllung der Lebensbedürfnisse, Steigerung der Lebensqualität und der sozialen Sicherheit usw. – wurden bald deren Schattenseiten gegenübergestellt: Waffen mit enormer Auswirkung und Reichweite, Entfremdung und Massenkultur durch die Industrialisierung, globale Zerstörungen u.v.m.

Konzepte »technischer Bildung« formieren sich beinahe ausschließlich als Bildung für die Technik und zielt auf ihre Handhabung ab. Eine Bildung durch die Technik, im Sinne einer allgemeinbildenden Fähigkeitsentwicklung kommt kaum in den Blick. Mit gravierenden Folgen: Die Gesellschaft wird dadurch daran gehindert, über die Konsequenzen ihres eigenen Tuns nachzudenken, da sich immer technische Lösungen anbieten. Und selbst bei theoretischer Einsicht, tritt eine Art gesellschaftliche Lähmung und praktischer Handlungsunfähigkeit ein – die Einsicht mündet nicht automatisch in die Tat.

Die Waldorfschulen, wie auch andere Reformschulen sind hier mit ihrem handwerklich-praktischen Unterricht früh einen anderen Weg gegangen. Wenn Rudolf Steiner für den Lehrplan der neunten Klasse die neuesten technischen Errungenschaften behandelt wissen wollte, eingebunden in ein umfassendes Konzept von Lebenskunde, dann schwebte ihm dabei eine neue Form von praktischer Allgemeinbildung vor, die eine zeitgemäße Verantwortungsethik begründen kann und Einsichtfähigkeit mit Handlungskompetenz verbindet.

Ein dynamisches Bildungsverständnis – Erkennen und Handeln

Versteht man unter Erkennen das denkende Durchdringen und Bearbeiten unserer Wahrnehmungen, so lassen sich die Künstliche Intelligenz (KI), Techniken der Augmented Reality (AR) und der virtuellen Realität (VR) naturgemäß auf unser Erkennen und Handeln beziehen. Die KI bildet Formen des logischen Denkens nach und bietet durch Expertensysteme in Verbindung mit Mustererkennung Entscheidungshilfen und Problemlösungen an.

Zu den vielfältigen Anwendungen wissensbasierter Systeme gehören z.B. die Spracherkennung, medizinisch-technische Diagnosehilfen und wirtschaftliche Prognosen u.a. Dabei muss der Anwender entscheiden, ob die vom Computer erzeugten Ergebnisse zu der realen Anwendungssituation passen und angemessen sind. Denn sie basieren auf gespeicherten Informationen der Vergangenheit, die nach vorgegebenen Kategorien strukturiert und nach einem entsprechenden Regelwerk kombiniert sind. Dies kann in komplexen Situationen problematisch werden. Zum Beispiel bei diagnostischen Expertensystemen im medizinischen Bereich, wenn aktuelle Forschungsergebnisse noch nicht zureichend in den zugehörigen Datenbanken erfasst worden sind oder auch bei wirtschaftlich-sozialen Prognosen. Ebenso kann hier die ethische Dimension eine wichtige Rolle spielen, denn eine logische, nur an quantitativen Faktoren orientierte Entscheidung der KI ist nicht zwingend eine moralisch vertretbare.

Bei der AR handelt es sich um eine computergestützte Erweiterung der menschlichen Wahrnehmung in Echtzeit. Die Anwendungsmöglichkeiten sind in Verbindung mit KI ebenfalls vielfältig: für die Gesichtserkennung; für die Navigation; beim Sport und Sportübertragungen; in der industriellen Produktion, wo Planungsdaten mit realen Größen abgeglichen werden können usw.

In der VR wird ausschnitthaft die Wahrnehmung der realen Welt mit ihren physikalischen Eigenschaften in Echtzeit simuliert. Sie fordert die menschliche Erkenntnisfähigkeit in der Kombination von visuellen Wahrnehmungen und mit künstlicher Logik gesteuerten Abläufen besonders heraus. Dabei ist deutlich, dass eine Orientierung in virtuellen Welten nur dann sinnvoll und möglich ist, wenn eine Orientierung in der realen Welt vorausgeht und mit einer entsprechend psychischen Stabilität verbunden ist.

Die pädagogische Herausforderung, die die Digitalisierung an das menschliche Erkennen stellt, besteht hier darin, dass zum souveränen Umgang mit ihr, Fähigkeiten gefordert sind, die über einen reinen Wissenserwerb hinausgehen. Hier wird u.a. eine bewusstere, aufmerksame Wahrnehmung und Konzentration gefordert, die die bereitgestellten Informationen mit der realen Wirklichkeit abgleichen kann; eine entsprechende Urteils- und Entscheidungsfähigkeit; sowie ein vernetztes und selbstgeführtes Denken, das die jeweilige Situation im Gesamtzusammenhang einordnen und gegebenenfalls unabhängig von vorgegebenen Strukturen gestalten kann.

Konzentration und überschauendes Denken

Dem menschlichen Handeln lassen sich Technologien zuordnen, die der Automatisierung von Handlungsabläufen und Arbeitsprozessen dienen. Zum Beispiel von Computer gesteuerte Maschinen und Roboter, die einfache, wie komplexe Tätigkeiten schnell, genau und weitgehend selbsttätig ausführen. In den entsprechenden Produktionsstätten und Fabrikhallen, in welchen die Güter durch eine Automatisierungstechnik hergestellt werden, hat sich die Rolle des Menschen von der direkten Produktion auf Aufgaben der Planung, Kontrolle, Wartung und administrativen Verwaltung der Prozesse verschoben. Hier bedarf es der Fähigkeiten zur Prozesswahrnehmung und -planung sowie der Reflexion der durch Maschinen weitreichend erweiterten Handlungsmöglichkeiten mit deren ökologischen, humanen und sozialen Auswirkungen. Gefordert ist hier ein ethisch reflektierter Wille.

Individuation und Sozialisation

Der menschlichen Individuation lässt sich ebenfalls eine Vielzahl von Geräten und Apps zuordnen, die der Optimierung und Selbst-Optimierung menschlichen Strebens dienen oder dienen sollen: digital gesteuerte Fitnessgeräte, Smartwatches mit diversen Funktionen, usw. Sie versprechen Orientierung, bessere Erledigung von Aufgaben und leichteres Leben in einer immer komplexer werdenden und auf Tempo und Beschleunigung ausgerichteten Gesellschaft.

Die Herausforderung besteht unter anderem darin, dass ein positives Bild der eigenen Individualität hinsichtlich der eigenen Möglichkeiten und Entwicklungsbedürfnisse, Lebensplanung und biografischen Ziele entwickelt werden müsste, um auf dieser Basis bewusst zu entscheiden, inwieweit digitale Helfer bei der Gestaltung von Leben und Arbeit sinnvoll sind.

Für Sozialisationsprozesse von Jugendlichen gewinnen soziale Medien an Bedeutung, die eine digitale und umfassende, multimediale Kommunikation von globaler Reichweite in Echtzeit ermöglichen. Neben den positiven Effekten neuer Kommunikationsformen besteht ihre Herausforderung in der bewussten Gestaltung dieser Prozesse, in der Eigen- und Fremdwahrnehmung, wie den Darstellungen in unterschiedlichen Medien und deren Auswirkung auf die eigene psychosoziale Verfassung.

Eine besondere Aufgabe besteht darin, die Aufmerksamkeit zu schulen im Umgang mit Emotionen und deren Beeinflussbarkeit, z.B. durch Phänomene des Cyber-Mobbings, Hate-Speech oder auch der rasanten Ausbreitung von emotional aufgeladenen Verschwörungstheorien. Hier ist u.a. eine Bewusstseinserweiterung gefordert, die achtsam mit den ethischen Auswirkungen von Kommunikationsprozessen umgehen lernt.

Tradition und Innovation

Im Umgang mit der Vergangenheit, der Tradition und der Frage, was es zu bewahren und was es zu verändern gilt, spielen Datenbanksysteme eine immer größer werdende Rolle. Sie sichern Daten, Informationen, Objekte und Modelle und sind für jene überall verfügbar, die entsprechende Zugriffsrechte besitzen. Sie fordern ein anwendungsorientiertes Informationsmanagement und vom »Datengräber« die Fähigkeit, mit den erhaltenen Daten angemessen umgehen und sie entsprechend beurteilen zu können. Die Herausforderung besteht darin, dass das Lernen von Fakten, die Aneignung von Wissen hinter der Frage zurücktritt, wie man Zugang zu den vorhandenen Daten und Informationen bekommt, welche Informationen man überhaupt haben will, wie man die Verlässlichkeit dieser Daten einschätzen kann und wie man weiter damit umgeht. Auch hier ist eine erhöhte, vorurteilslose Urteilsfähigkeit und eine Prozesswahrnehmung des Informationsflusses bezüglich der Anwendungssituation gefordert. Ein unbefangenes und kritisch-konstruktives Denken bildet hierfür ein wichtige Grundlage.

Das menschliche Erleben, das sich der Digitalisierung naturgemäß entzieht, ist zugleich diejenige Ressource, die im Umgang mit ihr am meisten gefordert wird: die menschliche Innovationsfähigkeit und Kreativität. Datenbanken, künstliche Intelligenz und weitere digitale Werkzeuge basieren auf der Vergangenheit und können das Zukünftige nur als deren berechenbare Fortsetzung voraussagen. Sie können nicht aus sich heraus neue Anwendungsmöglichkeiten erfinden, neue Zusammenhänge mit noch nicht bekannten Blickwinkeln erschließen und etwas Neues erzeugen, was es in der Vergangenheit so noch nie gab. Diese kultur- und wertschaffende Innovationsfähigkeit unterscheidet den Menschen von Maschinen und kennzeichnet ihn als intuitionsfähiges, geistiges Wesen. Gerade hier hat die Waldorfpädagogik eine erfolgreiche Tradition und eine besondere Stärke.

Zum Autor: Dr. Wilfried Gabriel, Waldorf-Berufskolleg Schloss Hamborn, Forschungsstelle Waldorf-Arbeitspädagogik, Berufsbildung an der Alanus-Hochschule Alfter.