Erziehung zur Freiheit im digitalen Wandel

Robin Schmidt

Digitale Lebenswelt

Es ist ein Leben in Bedeutungen, Bildern und Verweisen, in denen wir zunehmend unsere Arbeit verrichten, unsere Beziehungen erleben und unsere Freizeit verbringen, während das Leben im Körper, in Häusern und Fahrzeugen oder in der Natur immer seltener wird. Eine neue Lebenswelt entsteht – so wie einstmals die Eisenbahn zuerst als Fremdes in die natürliche, bäuerlich geprägte Lebenswelt einbrach und dann als Technik zur Grundlage der urbanen Lebenswelt wurde. So traten zunächst auch die digitalen Geräte in unsere weitgehend urbane Lebenswelt, doch nach und nach fügen sich die technischen Elemente zu einem Ganzen, von dem wir zunehmend strukturell abhängig sind. Von der Lebensmittel- oder Stromversorgung bis zu den alltäglichen Arbeiten und Freizeitaktivitäten: Sie basieren direkt oder indirekt auf digitalen Infrastrukturen. Sie sind die Grundlage für eine Umgebung, in der wir weite und wichtige Teile unseres Lebens verbringen.

In dieser digitalen Lebenswelt, die wir mit unserem Bewusstsein bewohnen, geschehen immer häufiger die entscheidenden Dinge: die Arbeit, die Beziehung, die Unterhaltung, das Soziale und die Freizeit. »Offline« zu sein ist zum Ausnahmezustand geworden. Und was »hier« vorgeht, in der analogen Wirklichkeit, das wird zunehmend zu einer Exkursion ins Exotische. Junge Leute fotografieren ihr Mittagessen mit dem Smartphone und laden das Bild hoch, damit die Freunde wissen: Jetzt wird hier Mittag gegessen, also bin ich kurz »weg«; und »weg« heißt: nicht im Kommunikationsraum, nicht da zu sein, wo das Eigentliche stattfindet. Auch der eigene Leib wird zunehmend zum

Beobachtungsgegenstand. Wir haben Geräte dabei, die uns protokollieren, wir überwachen uns selbst und streben nach der nächsten Selbstoptimierung: des Koffeinspiegels, der

Effizienz, der Gesundheit, der Spiritualität, der Quality-Time. So erleben wir uns zunehmend aus der Perspektive des Beobachters und die Sinneswelt als etwas Fernes, die eines Entschlusses bedarf, um sich ihr zuzuwenden. Das Kontinuum des Bewusstseins findet sich zunehmend im digitalen Raum und die übrige Welt wird von hier aus erschlossen.

Konsequenzen für Schule und Pädagogik

Zur Zeit der industriellen Revolution war es ein langer Weg kultureller und politischer Arbeit, um von der rohen, proletarischen Lebenswelt hin zur Großstadt zu kommen, die völlig neue und freie Lebensweisen ermöglicht hat. Und die moderne Pädagogik – auch die Waldorfpädagogik als Schule für die Kinder der Waldorf-Astoria-Fabrikarbeiter – verstand sich ursprünglich als Beitrag zur menschlichen Freiheit unter den prekären Bedingungen urbanen Lebens.

Wenn die Waldorfpädagogik unter den Bedingungen des digitalen Lebens zu einer »Erziehung zur Freiheit« weiterhin beitragen möchte, muss dieses Ziel unter diesen ver­-änderten Bedingungen neu befragt werden. Pädagogik im digitalen Zeitalter bedeutet dann nicht nur, wie ein sinnvoller und souveräner Umgang mit digitalen Medien gefunden werden kann. Die daneben immer dringlicher werdende Frage ist, wie Erziehung, Schule und Unterricht angesichts dieses Wandels gestaltet werden. Das bedeutet, elementare pädagogische und curriculare Fragen neu zu stellen und sich neu und anders um das Nicht-Digitale, das spezifisch Menschliche zu kümmern. Es bedeutet, in der Erziehung Grundlagen für eine Freiheitserfahrung im digitalen Zeitalter zu legen. Gegenwärtig zeigen sich fünf Felder, in denen die Fragen nach solchen Grundlagen und Bedingungen im pädagogischen Umfeld gestellt werden können.

1. Schulorganisation mit Informations- und Kommunikationstechnik (IKT)

Hier geht es um die Effizienz der Verwaltung in den verschiedenen Einsatzbereichen im Schulalltag: Zeugnisprogramme, Plattformen für den Download von Unterrichtsmaterialien und Aufgaben, Stunden- und Raumplansoftware, Buchhaltung und die Website der Schule, Kommunikationskanäle zwischen Eltern, Lehrern und Schülern. Wichtig ist hier, dass dies nicht eigentlich ein Feld pädagogischer Gestaltung ist, sondern ein operativ-organisatorisches, dessen eigene Logik auch auf diesen Bereich beschränkt bleiben sollte. Aber Effizienz der Unterrichtsorganisation ist auch indirekt ein pädagogisches Gestaltungskriterium, da wo die Effizienzverluste so groß sind, dass sie auf Kosten der Unterrichtsvorbereitung gehen. Tatsächlich lassen digitale Tools viele Vereinfachungen zu, zumal oft für jeden der genannten Bereiche heute eigene Systeme mit je eigenen Logiken in den Schulen parallel vorhanden sind. Aber integrierte Systeme entlasten nicht nur, sie binden Prozesse auf eine Weise, die man bejahen muss. Was im Hinblick auf Freiheit wichtig ist: Bei der Einführung neuer Systeme sollten die Gesichtspunkte von allen künftigen Beteiligten in die Entscheidung einbezogen werden. Hier geht es darum, Lernen mittels IKT so zu organisieren, dass Energie für pädagogische Aufgaben frei wird.

2. Prävention und Sicherheit

Wir können Stadtkinder nicht vor dem lebensgefährlichen Straßenverkehr bewahren – es ist auf lange Frist sicherer, wenn sie unter Anleitung eines Polizisten erfahren, wie man eine Straße sicher überquert und später, wie man gut auf der Straße Fahrrad fährt, als sie immerzu in einem SUV an der Schultür abzuladen. Ebenso notwendig ist eine elementare digitale »Verkehrserziehung«, die aktiv vor den Gefahren in diesem Raum schützt. Ein elementarer Präventionsunterricht kann, wie der Fahrradführerschein, mit einem Abzeichen absolviert werden und bestätigen, dass man die wichtigsten Regeln und Gesetze kennt und sich in einem kleinen, aber wachsendem Radius sicher fortbewegen kann.

Für Lehrer und Erzieher ist in diesem Feld entscheidend, ob sie ihre Aufsichtspflicht wahrnehmen können, ob sie wissen, was erlaubt und verboten ist und wie auffällige und problematische Handlungen erkannt werden können. Wie sieht Mobbing mit Snapchat oder Instagram aus? Wie äußert sich eine internetbasierte Sucht? Was hilft Kindern, mit nicht-altersgerechten Erfahrungen umzugehen?

Hier geht es also nicht um den Einsatz von IKT in der Schule, sondern um den Schutz von Schülerinnen und Schülern sowie die Rechte und Pflichten von Eltern und Lehrern. Wer ist für diese Fragen Ansprechpartner in der Schule, wer führt im Krisenfall die Prozesse? Hierbei geht es um ein Lernen über IKT, das elementare soziale Freiheitsräume schützt.

3. Souveränität

Mediensouveränität oder Medienmündigkeit ist das Ziel jeder Medienpädagogik. Hier hat der Waldorfpädagoge Edwin Hübner die produktive Unterscheidung von direkter und indirekter Medienpädagogik geprägt.

Indirekte Medienpädagogik heißt: Welche nicht-medialen schulischen Tätigkeiten fördern eine Schülerpersönlichkeit, die einen souveränen Medienumgang aus sich selbst findet? Die Eurythmie, das Spielen in der Natur, das Schülertheater und vieles andere kann dies fördern. Im Feld der direkten Medienpädagogik stellt sich die Frage: Welches Wissen und Können macht Schüler »hands on« souverän im Umgang mit IKT?

Lernen Schüler die technischen Grundlagen, die Funktionsweisen, die Programmierung und Anwendung von Software in den Grundzügen so kennen, dass sie sie durchschauen können? Lernen sie, kritisch zu hinterfragen, wie digitale Medien arbeiten, wie man Bilder und Nachrichten analysiert und bewertet? Lernen sie, wie man als Erwachsener mit IKT umgeht, um zu arbeiten?

Anders als noch vor 15 Jahren betrifft dies wegen der veränderten Lebenswelt nicht mehr nur die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer, sondern genauso die Kunst, die Sprachen und die geisteswissenschaftlichen Fächer. – Es ist ein Lernen an IKT, das die Kraft der Selbstbestimmung fördert.

4. Fachliches Lernen mit IKT

Wie kann Geschichte, wie kann Englisch oder Physik mit IKT nicht nur ein bisschen anders, sondern so unterrichtet werden, dass sich ein fachdidaktisch besserer Unterricht ergibt als ohne IKT? Das ist eine sehr schwierige Frage, die bisher keine einfachen Antworten kennt. Die Idee, allein durch die Verwendung von Laptops, iPads oder Smartphones, durch Lernsoftware oder bunte Präsentationen besseren Unterricht machen zu können, ist wissenschaftlich widerlegt. Die großen Geräte-Implementierungsprogramme, die in der ganzen Welt ausprobiert wurden, sind aus erziehungswissenschaftlicher Sicht gescheitert – auch wenn die Konzerne und die Politik dies gerne ignorieren. Auch entsprechende Weiterbildungsprogramme und die Einführung von zunächst vielversprechender Lernsoftware waren nur von geringem Erfolg gekrönt, wenn wirklich die Verbesserung des fachlichen Lernens gemessen wurde. Aber es gibt auch Gelingen: insbesondere dort, wo durch IKT der Stoff vertieft erschlossen wird, wie z.B. im Geographie-Unterricht, wenn Schülerinnen und Schüler mit Smartphones eine Lärmkarte ihrer Stadt erstellen. Plakativ gesagt, gilt in diesem Feld des Lernens mit IKT: Entweder wird der Fachunterricht durch IKT im Hinblick auf die Lernziele – die in der modernen Pädagogik immer auch auf Freiheit hin entworfen sind – besser oder der Einsatz hat keine Berechtigung.

5. Ziele der Schule

Welcher Pädagogik bedarf es unter der Bedingung von Digitalität? Was sollen Schüler lernen wegen IKT, die die Welt von heute prägt? Welche schulischen Tätigkeiten ermöglichen es Schülern in Zukunft, die Gesellschaft und den digitalen Wandel zu gestalten? Pädagogen, die sich mit den gesellschaftlichen Folgen des digitalen Wandels beschäftigen, sprechen oft von der »Konzentration auf das Nicht-Digitalisierbare«, wenn sie über die Zukunft der Schule nachdenken. Wenn in Zukunft in der Gesellschaft alles digitalisiert wird, was digitalisierbar ist, dann sollte das Lernen insbesondere diejenigen Kompetenzen fördern, die eben menschlich sind und nicht von IKT übernommen werden können. Häufig wird hier das »4-K-Modell« zitiert: Kreativität, Kommunikation, kritisches Denken und Kollaboration.

Waldorf-Einrichtungen können sich hier die elementare Frage stellen: Wie lässt sich menschliche Freiheit innerhalb einer digitalen Lebenswelt erfahren? Wo wird Freiheit für junge Menschen zur Erfahrung? Nach meiner Beobachtung liegt die Erfahrung der Freiheit heute in der Kraft und Fähigkeit zur Verbindung. Während im 20. Jahrhundert die Freiheitserfahrung stärker mit der Emanzipation, der Eröffnung vieler Möglichkeiten und der Betonung des Auslebens der Eigenheit verbunden war, tritt sie heute in Verbindung mit Entschlüssen zu einer Bindung sowie der Reduktion von Möglichkeiten in der Hinwendung zu einem Konkreten und der Verbindung mit einem Anderen auf. Die Waldorfpädagogik muss fragen, welche Formen des Lehrens und Lernens und welches Curriculum diese Kraft der Weltbejahung stärken kann.

Initiativen auf diesen fünf Feldern – unter Berücksichtigung der jeweils verschiedenen Logiken und Werte – tragen dazu bei, zum aktiven Gestalter des digitalen Wandels zu werden. Die Alternative dazu wäre der Ausstieg – oder man wird sich den Verhältnissen beugen müssen. Akzeptiert man aber den mit dem digitalen Wandel sich vollziehenden Bewusstseins- und Kulturwandel, wird erst die immense kulturelle Aufgabe sichtbar, die sich stellt. Die Beschränkung der Diskussion auf den Einsatz und das Verbot digitaler Medien im Kindergarten und in der Schule stellt demgegenüber eine Verharmlosung dar.

Zum Autor: Robin Schmidt ist Leiter der Forschungsstelle Kulturimpuls (www.kulturimpuls.org) und Wissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule FHNW in Basel; zur Zeit forscht er zu Pädagogik und Menschsein unter der Bedingung von Digitalität.