Farbe bekennen

Katharina Sieckmann | Herr di Lorenzo, können Sie nach dieser intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema sagen, was Ihrer Meinung nach den Wertekanon unserer Gesellschaft prägt?

Giovanni di Lorenzo | Nein! Das wollten wir auch nicht, wir wollten keinen Tugendkatalog erstellen. Uns war es wichtig, zu zeigen, wie sich Werte im Laufe der Jahre auch verändern. Deshalb ist es eine Suche geworden nach dem, was für uns in diesem Leben wichtig ist, und nicht ein Katalog von Werten oder Tugenden, nach dem man sich richten kann. Wir wollten unsere Position transparent machen, deshalb ist das Buch auch, wenn es um uns geht, nicht besonders schmeichelhaft. Wenn man versucht, mit sich selbst ehrlich zu sein, dann kommen dabei nicht nur Helden­geschichten heraus.

KS | In Ihrem Buch finden sich tatsächlich einige Geschichten, die Sie in keinem besonders guten Licht darstellen. Würden Sie sagen, dass diese Situationen wichtig für die eigene Weiterentwicklung sind?

GdL | Ja, davon bin ich überzeugt. Ich glaube, dass es wichtig ist, Fehler zu machen und nicht das Leben auf bloße Fehlervermeidung anzulegen. Ich glaube, dass der Fehler eine wesentliche Voraussetzung überhaupt für Weiterentwicklung ist.

KS | Hat sich denn Ihr Empfinden für dieses Thema der Werte verändert, seit Sie selber Vater sind?

GdL | Absolut! Da ist zuerst einmal die Tatsache, dass ich ein »später Vater« bin, die dazu führt, dass ich das alles sehr viel bewusster wahrnehme, als wenn ich erst dreißig wäre. Ich erlebe jeden Tag, was für ein enormes Kapital es für ein Kind ist, wenn es sich gemocht und geliebt fühlt, ganz unabhängig von seiner Leistung. Ich behaupte, dass es das ist, worunter die meisten meiner Generation gelitten haben: Unter der Abwesenheit dieser bedingungslosen Zuneigung. Das ist ein wesentliches Rüstzeug, das man dem Kind fürs Leben mitgibt. Ich bin leider häufig weg von meiner Familie und letztens fragte ich meine Tochter, ob sie traurig ist, wenn ich wegfahre und sie sagte: »Nö, ich weiß doch, dass du immer wieder kommst.« Das hat mich so gefreut, weil ich fühlte, wie sie von dieser Sicherheit und dieser Beständigkeit zehren kann.

KS | Haben Sie ein Gespür dafür, wie es ist, Kindern Werte zu vermitteln? Gibt es da ein praktisches Vorgehen?

GdL | Auch hier gehe ich nicht nach dem Lehrbuch vor. Meine Frau und ich haben uns kein einziges Erziehungsbuch angeschaut. Wir handeln beide lieber intuitiv. Aber man findet oft bei Menschen meiner Generation, dass sie Kinder unzählige Möglichkeiten eröffnen. Möchtest du dieses oder jenes essen, möchtest du dieses oder jenes spielen oder was möchtest du als nächstes tun? Kinder sagen heute oft: »Mir ist langweilig!« Ich glaube, ich kannte das Wort gar nicht als Kind. Wir sind rausgegangen und haben mit den Steinen gespielt. Dieses Dauerbespaßen der Kinder finde ich einfach furchtbar.

KS | Haben Sie grundsätzlich das Gefühl, dass man als Erwachsener mit Kindern eine andere Verpflichtung hat, ein gutes Vorbild zu sein?

GdL | Ich kann da wieder nur von mir sprechen und sagen, dass ich es wichtig finde, Kindern hin und wieder ein gutes Beispiel zu geben, ohne dass man vorgibt, etwas zu sein, was man nicht ist. Die Erfahrung der Fehlerhaftigkeit ist eine, die Kinder machen sollten. Ich habe neulich eine lange Diskussion mit meiner Tochter geführt, dass jeder mal doof sein darf. Wir waren allein und sie fragt mich, ob ich doof bin und ich antwortete: »Ja, manchmal schon und du darfst auch manchmal doof sein.«

KS | Das Spannende an Ihrem Buch ist ja, dass man denkt, man erhält eine Abhandlung über Werte und dann wird man mit diversen Episoden konfrontiert, die beim Lesen aber dazu führen, dass man über sein eigenes Leben nachdenkt und hinterfragt, wieso man eigentlich so geworden ist, wie man ist …

GdL | Das war eine wichtige Intention des Buches, dass beim Leser ein eigener Film losgeht. Das fanden wir selbst sehr spannend, dass man über alles Mögliche redet, und bei der Frage »Wofür stehst du?« wird es plötzlich schwierig. Die Frage macht ja wirklich verlegen, auch weil so viele Werte missbraucht wurden. Ich glaube, dass man immer dann in seinem Leben etwas ändern sollte, wenn man das Gefühl hat, ein kleines Arschloch zu sein.

Ein Psychoanalytiker würde jetzt sagen, es ist aber auch wichtig, dass man sich mit diesen negativen Aspekten versöhnt, und trotzdem gibt es so einen Punkt, an dem man anfängt, sich selbst zu belügen. Wenn man dann nicht kritisch sich selbst gegenüber ist, dann bleibt man stehen, dann ist man nicht mehr neugierig. Wenn man keinen Stachel mehr hat, sich mit sich selbst und seinen Abgründen auseinanderzusetzen, an sich zu arbeiten und sich selbst zu verändern, dann ist alles zu spät.

KS | Haben Sie diesen Stachel?

GdL | Ich glaube ja, sehr. Manchmal wünschte ich, ich hätte einen etwas milderen Blick auf mich selbst.

KS | Im Buch geht es auch viel um die Wahrnehmung unserer Gesellschaft, also darum, wie wir hier leben, wie es uns geht, worüber wir uns beklagen. Viele kritisieren, dass die Politiker alle unehrlich und schlecht seien, man könne ihnen nicht mehr vertrauen und Sie widersprechen sehr vehement. Hat das etwas mit Ihren italienischen Wurzeln zu tun?

GdL | Der Blick auf Italien macht einen definitiv dankbarer für das, was man hier hat. In dem Punkt gebe ich Ihnen Recht. Aber nicht nur auf Italien, auch wenn man andere Länder betrachtet, dann wird man demütiger und dankbarer für alles, was hier, trotz vieler Fehler, geschaffen wurde. Ich habe oft den Eindruck, dass vielen das Gefühl für die Dinge, die hier wertvoll und erhaltenswert sind, vollkommen abhanden gekommen ist.

KS | In welcher Hinsicht?

GdL | Es wird alles für selbstverständlich gehalten und nur das fokussiert, was nicht gut ist. Für Journalisten ist das natürlich selbstverständlich und richtig: Es liegt in unserer DNA, uns auf das zu konzentrieren, was fehlerhaft ist. Aber allgemein wird zu viel genörgelt, und ich mag dieses pauschale Immer-alles-schlecht-Reden nicht. Nicht nur, weil es nicht stimmt, sondern weil es auf Dauer auch die Stimmung in einem Land killt. Auf dem Höhepunkt des Berlusconismo hatte ich manchmal das Bedürfnis, wie der häufig kritisierte Karol Woytyla, den deutschen Boden zu küssen, sobald ich die Grenze passiert hatte …

KS | Ist das auch etwas, was Sie Ihrer Tochter vermitteln?

GdL | Komischerweise bin ich, was meine Tochter angeht, sehr unehrgeizig. Mit ihr verbinde ich nur den Wunsch und die Hoffnung, dass sie ein zufriedenes Leben führen kann. Es geht mir und uns nicht darum, dass sie etwas Besonderes werden soll. Ich hoffe, dass sie eines Tages erfüllt und glücklich sein wird mit dem, was sie tut. Einen eigenen Kopf und eine eigene Meinung, das ist alles schon da, da gibt es keinen Zweifel. Und auch die Abgrenzung gelingt diesem kleinen Wesen schon sehr gut: Da geht es mir wie vielen anderen Vätern auch: Mit mir will sich das Kind viel unmittelbarer auseinandersetzen, als mit seiner Mutter. Wir müssen rangeln, toben und Kräfte messen.

KS | Können Sie sagen, was für Sie das Salz in der Suppe für ein gelingendes Zusammenleben in unserer Gesellschaft ist?

GdL | Zwei Dinge: Das Verständigen auf Regeln und das Ertragen der Verschiedenartigkeit im Respekt der Regeln. Es ist ganz wesentlich, nicht die Erwartung zu haben, dass der andere so denkt, redet und handelt wie ich, sondern dass man sich stattdessen über die unterschiedlichen Befindlichkeiten und Sichtweisen austauscht und miteinander im Gespräch bleibt. Man muss sich über Regeln und Grenzen des eigenen Handelns verständigen und Wege finden, mit denen es beiden Seiten gut geht.

Axel Hacke, Giovanni di Lorenzo: Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist – eine Suche, Köln 2012