Gefährdete Bildung

Albrecht Hüttig

Viel Messung, aber keine Besserung

Die Schrift »Wozu Bildungsökonomie?« zeichnet sich durch eine differenzierte Kritik am Bildungswesen aus. Die Autoren dieser Publikation warnen vor der Dominanz einer Bildungsökonomie, die Bildung zur Ware degradiert, den Kompetenzansatz auf eine Input-Output-Kalkulation reduziert und Schulen und Hochschulen zu Produzenten von Zielen mutieren lässt, die vom Staat und von gesellschaftlichen Gruppen, besonders der Wirtschaft, postuliert werden. Ärgerlich sei die Begleiterscheinung, die Manfred Becker mit den Worten charakterisiert: »In Schulen und Hochschulen sind die Akkreditierungsagenturen, die Evaluierungsbüros, die Zertifizierungsinstanzen und die Controllingabteilungen eingefallen wie die Stare in Kirschbäume. TIMMS und PISA untersuchen mit Herzblut die Qualität der Schulbildung, erarbeiten Benchmarks und beschäftigen eine wachsende Zertifizierungsindustrie.« Dass dadurch die Bildungsqualität verbessert wird, lässt sich bezweifeln.

Kinder als Wirtschaftsfaktor instrumentalisiert

Silja Graupe zeichnet die Genese einer solch einseitigen Bildungsökonomie. Zitate aus OECD-Publikationen von 1966 wiesen unmissverständlich die Richtung: »Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir können nun, ohne zu erröten und mit gutem ökonomischen Gewissen versichern, dass die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von Realkapital an Bedeutung vergleichbar – auf lange Dauer vielleicht sogar überlegen – ist«. Der Begriff »Humankapital«, durch die Nobelpreisträger der Wirtschafts­wissenschaft Theodore W. Schultz und Gary S. Becker in der ›Chicago School‹ geprägt, reduziert den Menschen auf ein Ding.

Diese Neoliberalen sind überzeugt, ihre markt- und ökonomiefixierte Methode sei allein gültig und geeignet, auf alle Gebiete menschlicher Existenz angewandt zu werden, auch auf die Religion oder die Familie. Das ist eine Anmaßung, die den von Silja Graupe gewählten Ausdruck ›ökonomischer Imperialismus‹ rechtfertigt.

Die Entfaltung der Persönlichkeit schließt Determination aus

Ein solches Denken ist einem modernen Rechtsverständnis diametral entgegengesetzt. Die in der UN-Menschenrechtskonvention oder dem Grundgesetz kodifizierten Grundrechte und das Wohl des Kindes, das die Kinderrechtskonvention definiert, sowie das Teilhaberecht aller Menschen – Ziel der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung – sind alleiniger Maßstab.

Bildung basiert immer auf der Entfaltung der Persönlichkeit. Das schließt ökonomistische oder ähnliche Determinationen aus.

Reformen gegen den Volkswillen?

Dieser Diskrepanz widmet Jochen Krautz seinen Artikel »Bildungsreform und Propaganda«. Auch er beurteilt das neoliberale Menschenbild und die daraus abgeleitete Bildungskonzeption als abwegig. Das Selbstverständnis der PISA-Akteure ist nicht deskriptiv. Krautz schreibt: »Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die PISA-Tests mit ihrem Verzicht auf transnationale curriculare Validität … und der Konzentration auf die Erfassung von Basiskompetenzen ein didaktisches und bildungstheoretisches Konzept mit sich führen, das normativ ist.« Das legt nahe, Bildung mittels eines reduktionistischen Tests durch mediale Resonanz aktiv so umzugestalten, wie es dem Bild des homo oeconomicus entspricht. Partner müssen gesucht werden, die diesen Trend unterstützen und die sogenannte öffentliche Meinung gestalten. Daher nimmt es nicht Wunder, wenn diesbezüglich namhafte Institutionen – Bertelsmann-Stiftung, IfO-Institut, Aktionsrat Bildung, BDI und BDA – von Jochen Krautz hinterfragt werden. Das Selbstverständnis der Bertelsmann-Stiftung ist publiziert, die kritische Analyse fällt somit nicht schwer: »Kunst des Reformierens« heißt ihr Programm. Darin finden sich beispielsweise Sätze wie diese: »Um ihrer politischen Verantwortung gerecht zu werden, muss eine Regierung sich im Zweifelsfall auch gegen den empirischen und kontingenten Volkswillen durchsetzen. Politische Entscheidungen, die der gegebenen Mehrheitsmeinung entgegenstehen, sind nur auf den ersten Blick demokratietheoretisch bedenklich«. –

Jochen Krautz kommt zu dem Schluss, dass die Demokratie zur Scheindemokratie mutiert, wenn so verfahren wird. Da dieses Strategiepapier Anweisungen gibt, wie Opposition gegen die eigenen Ziele verhindert und aufgesplittert werden soll, scheint der Vergleich mit Methoden der Stasi legitim, wenn auch etwas übertrieben. Wenn solche Tendenzen, Bildung nach der »Theorie des ökonomischen Imperialismus« umzugestalten, immer mehr Raum gewinnen, ist es an der Zeit, so Krautz, »dass nicht nur Wissenschaftler, sondern Eltern, Lehrer und alle Bürger die Hoheit über ihr Bildungswesen zurückfordern.«

»Keine Okkupation der Bildung durch Staat und Wirtschaft«

Diese Forderung ist ernst zu nehmen und unterstützenswert. Interessanterweise ist sie historisch nicht neu. Während der Revolutionszeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde die erste Waldorfschule gegründet. Rudolf Steiner forderte für diesen sich selbst verwaltenden Schultypus, dass »nichts hineinreden oder hineinregieren« solle, was Staats- oder Wirtschaftsinteressen entspreche, da – so können wir heute ergänzen – die Bildung zu den Grundrechten gehört, somit ein eigenes Rechtsgut darstellt. Bildung ist zwar gesellschaftlich nicht isoliert, es ist auch gar nichts dagegen einzuwenden, dass es Veränderungen von Bildungszielen gibt, dass zum Beispiel Bildungsziele nicht nur auf Inhalte, sondern auch auf Fähigkeiten ausgerichtet sind. Wogegen man sich jedoch zur Wehr setzen muss, ist die Tendenz, dass nichtpädagogische Akteure Bildung okkupieren – zumal sie pädagogisch gar nicht qualifiziert sind. Es würde wohl heftigere gesellschaftliche Reaktionen geben, wenn die imperiale Bildungsökonomie sich in gleicher Weise in die Ausbildung und Praxis von Theologen oder Juristen einmischen würde.

Monopolartig forcierte Umsteuerung des Bildungssystems?

Lautet ein Tagungstitel »Irrwege der Unterrichtsreform«, so ist das Programm. Veranstaltet von der Gesellschaft für Wissen und Bildung ging es auch hier um die zentrale Frage, was Bildung sei und inwiefern sogenannte Reformen des Bildungswesens gefährliche Tendenzen für die Schüler aufweisen. Der zusammenfassende Bericht von Axel Bernd Kunze thematisiert die realen negativen Konsequenzen für den Unterricht, die der »monopolartig geforderten Umsteuerung des Bildungssystems« geschuldet seien, eine Zielsetzung, »die auf inhaltsleere Kompetenzen statt solides Fachwissen, oberflächliche Information statt Bildungserlebnisse, Funktionalisierung statt Sinngebung setzt.« Rainer Bremer bringt seine Ausführungen zu inhaltsentleerten Kompetenz- und Methodenansätzen auf den provokativen Nenner: »Den bildungspolitisch Verantwortlichen sind die Schüler egal … «. Es ist lohnenswert, sich mit den weiteren Beiträgen dieser Tagung auseinanderzusetzen, denn sogenannte Bildungsreformen, die sich in der Praxis als fragwürdig und unsinnig erweisen, müssen korrigiert werden, wobei Bildungsministerien und Bildungspolitiker diejenigen sind, die den Dialog suchen sollten. Es spricht für ein akutes Dilemma, wenn am Ende des Schuljahres der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes in einer Pressemittelung davor warnen muss, die Zeugnisse zu ernst zu nehmen, denn ihnen läge ein »primitives Leistungs- und Bildungsverständnis« zugrunde, das in seiner Aussagekraft nicht valide sei (Pressemitteilung des BLLV vom 27.07.2012). Was folgt aus dieser aktuellen Situation? Die Verantwortlichen in Schulen und Hochschulen sollten sich verstärkt als Anwälte ihrer Schüler und Studierenden verstehen, sie vor bildungsschädlichen Veränderungen schützen und sich vehementer in die Bildungsdiskussion einbringen.

Literatur: Wozu Bildungsökonomie? Fachtagung 2011; 2012 vom Deutschen Lehrerverband herausgegeben, als pdf. abrufbar: lehrerverband.de/DL_Tagungsdokumentation_2011_Bildungsoekonomie.pdf. | Rudolf Steiner: Kernpunkte des Sozialen Organismus, Gesamtausgabe Bd. 23, Dornach 1976. http://www.forumsozialethik.de/2012/03/25/irrwege-der-unterrichtsreform/ | Rainer Bremer: Lernwerkstätten – über Illusionen zu praktischem Lernen (Kurzfassung); | http://bildung-wissen.eu/fachbeitraege/bildung-und-beruf/lernwerkstatten-uber-illusionen-zu-praktischem-lernen.html

Hinweis: Redaktionell überarbeiteter Beitrag aus: »Recht & Bildung«, 3/12